: Leben in Würfeln
Wenn die Vergangenheit nahezu spurlos in einem Loch des Vergessens verschwindet: Menschen, die an Korsakow erkranken, werden mit ihren Erzählungen verbal zu Spielern mit dem eigenen Ich. So wie Herr P. und Herr E.
von PETER BRANDHORST
Es sind diese gewohnten Momente, die Ahnung aufkommen lassen von der Hilflosigkeit menschlichen Seins. Wenn Menschen ratlos nach Erinnerungen suchen, nach Spuren und Fährten, die ihnen Halt und Orientierung bieten könnten. Und sie dann doch keinerlei Hinweise entdecken, weil ihnen kein Gedächtnis mehr helfen kann. Einfach keine Erinnerung mehr an das eigene alltägliche Erleben.
„Oh Mann“, seufzt Herr P., „jetzt fragen Sie mich aber was ganz Schweres.“ Es ist früher Nachmittag, und Herr P. hat nach dem Mittagessen aus seinem Leben erzählt. Die Fotografin hat noch einige Aufnahmen mit ihm gemacht, „tun Sie ganz so, wie Sie wollen“, hat sie ihn ermuntert. Und Herr P. hat gescherzt und gesungen und ganz freundlich in die Kamera geschaut. Immer wieder ist ihm dabei der Hosenträger von der rechten Schulter gerutscht. Ganz rasch passiert das; Arm und Schultergelenk fehlen, um Halt zu geben.
„Eine schwere Frage“, wiederholt Herr P., und ein scheues Lächeln drückt seine Verlegenheit aus. Da sitzt jetzt nicht mehr der lachende Mann von noch vorhin, der versucht hat, lauthals aus seiner Vergangenheit zu erzählen, von seinem Leben vor 30 oder 40 Jahren. „Mittagessen?“, antwortet Herr P. schließlich, „ich glaub', Pellkartoffeln mit Spiegelei waren das heute. Oder mit Rührei?“ Und dann: „Kohlroulade gab's? Nee, das könnte ich so jetzt nicht sagen.“
„Herr P.“, ruft die Fotografin ihm dann noch ein letztes Mal zu, „die Aufnahmen vorhin – hat das Spaß gemacht?“ „Fotos?“, fragt Herr P. überrascht zurück, „von mir wurden Fotos gemacht? Ja, doch, das kann möglich sein.“
Ein paar Flure weiter liegt Herr E. in seinem Zimmer auf dem Bett. Herr E. ist 71 Jahre alt und liegt dort jeden Tag so, immer auf dem Rücken und dabei stets den Blick auf irgendeinen Punkt unter der Zimmerdecke gerichtet. Morgens kleidet sich Herr E. an, bevor er erneut auf sein Bett zurückkehrt. Herr E. trägt einen kleinen Kugelbauch unter dem blauen Hemd, und auch noch, wenn er im Bett liegt, faltet er seine Hände so, als müsse er den Bauch stützen. Herr E. ist ein leiser Mann, anders als Herr P. es manchmal sein will, und er ist ein schweigsamer Mensch. Kein Wort zuviel bei den Antworten auf die Fragen. „Weiß ich nicht“, sagt er dann meistens, und manchmal antwortet er nur mit hilflosen, unwissenden Blicken irgendwo an die Decke.
Bloß von den Großeltern, „Oma Sofie und Opa Wilhelm“, die ihn als Kind erzogen und mit denen er auch als Erwachsener lange zusammenwohnte, spricht er in etwas längeren Sätzen. Ob seine Großeltern vielleicht noch leben? „Weiß ich nicht. Das kann ich gar nicht sagen.“
Später, als wir uns verabschieden, steht auch Herr E. von seinem Bett auf. Selten, aber manchmal tut er das, wenn er beispielsweise Durst verspürt und neues Mineralwasser wünscht. Jetzt also steht Herr E. neben uns auf dem Flur, und der Betreuer fragt ihn: „Na, Herr E., Sie hatten Besuch heute?“ Und Herr E. antwortet: „Besuch? Nein, nein. Gar nicht.“
Das Leben, und in ihm Menschen wie Herr E. und Herr P., ist wie in dichten Nebel gehüllt, der jeglichen Blick verstellt auf die kleinen Erlebnisse des Alltags. Ein fester, undurchdringbarer Nebel, in dem sich sogleich jede Erinnerung an das Jetzt und das Soeben für immer ungreifbar verliert. Eben noch Erlebtes, das spurlos und sekundenschnell wieder aus dem Hirn wegradiert wurde. Herr P. und Herr E. leben als Menschen ohne Gedächtnis. Wer am Korsakow-Syndrom erkrankt ist, der allerschwersten aller Alkoholkrankheiten, erlebt jede Situation ständig neu.
„Ich hab nicht hinterm Berg gehalten“, sagt Herr P., wenn er von früher erzählt und vom Alkohol, „man hat da irgendwann keine Maße mehr für.“ Herr P. ist 67 Jahre alt, ein Hamburger Jung, gelernter Schlosser und Alkoholiker seit 50 Jahren. „Man trinkt Bier und Bier und Bier“, versucht er seine über all die lange Zeit geübten Gewohnheiten zu beschreiben, „das war eigentlich an und für sich immer das Übliche.“
„Zuhause“, sagt Herr P., „hab ich natürlich das große Maul gehabt.“ Und dann erzählt er davon, wie er mit seiner Frau „in Knatsch gekommen“ ist wegen „so'm Verhältnis, das sie nebenbei hatte, und all so'm Kram“. Ich bin deshalb da raus aus der Wohnung, glaubt Herr P., doch seine Erinnerung verliert sich bereits viel früher, ungefähr seit Anfang der achtziger Jahre. Wohin er nach dem Knatsch ging? „Nee, das weiß ich nicht mehr.“ Wie seine Frau denn wohl hieß? „Oh ha, das fällt mir ehrlich nicht mehr ein.“ Ende 1988 wurde Herr P. allein und hilflos und offensichtlich bereits seit Tagen ohne Bewusstsein in seiner Wohnung aufgefunden.
Wer ihn fand? Niemand weiß das heute mehr. Welche Geschehen dem in den Monaten oder Jahren zuvor vorausgingen? Keine Hinweise in den Akten auffindbar, alle Spuren auf ewig gelöscht. „Alkoholiker, die an Korsakow erkranken“, sagt Roman Weiß, bei der staatlichen Hamburger Einrichtung „pflegen & wohnen“ Leiter eines Pflegeheims für Trinker, „sind nicht mehr in der Lage, sich sozial adäquat zu verhalten“. Die Folge: Bekannte und auch Angehörige ziehen sich oftmals vollkommen zurück. Herrn P.'s Frau, zusammen mit den gemeinsamen Kindern, muss die Wohnung schon lange vor seinem Auffinden für immer verlassen haben. Zu kraftlos war sie oder vielleicht auch nur desinteressiert, wer weiß das schon noch, um das weitere Schicksal ihres Mannes zu verfolgen. Herr P. kam nach einem kurzen Aufenthalt in der Psychiatrie Anfang 1989 in eine betreute Pflegeeinrichtung, wo er seither lebt. „Das sind jetzt ungefähr zwei Monate, die ich im Heim bin“, sagt er.
Es scheint, als habe jemand einfach die Löschtaste des Hirns, dieses menschlichen Computers, gedrückt. Daten, Namen, Fakten – all diese Informationen und Erinnerungen des Lebens, sie verschwinden nahezu spurlos in einem Loch des Vergessens. Wer sich an Erlebtes nicht mehr erinnert, der wird mit seinen Erzählungen verbal zum Spieler. Wie bei einem Brettspieler, der die Würfel wirft für ein doch nur zufälliges Ergebnis, gleichen Erzählungen korsakowkranker Menschen einem mentalen Würfelspiel.
Das war erst vor kurzem, vor ein paar Monaten, würfelt nun Herr P., wenn er von seinem rechten Arm spricht und davon, wie er den verlor. Und dann erzählt er von einer großen Straße, wie es sie dicht bei seinem Pflegeheim gibt, und von einer anderen in der Nähe des Hauptbahnhofs. Dort befand sich einst ein Sozialamt, und es scheint, als habe Herr P. Ansätze einer Erinnerung, wonach sein Leben ihn in früheren Jahren des öfteren auch dorthin führte. „Wo der Unfall aber genau war, da bin ich jetzt im Zweifel“, sagt Herr P. und setzt an zu einem neuen verbalen Wurf. Ich bin über die Straße gelaufen, erzählt er, von links ein Bus, von rechts ein anderer, und dann bin ich gestolpert. „Mit die Vorderräder einfach rüber gefahren“, erklärt Herr P., „und dann sachte das: zack. Und weg war er.“
Wie er mit der anderen Hand immer wieder den Hosenträger zurück auf die rechte Schulter streife, beschreiben später die Betreuer, das lasse schon eine lange Jahre trainierte Routine erkennen. 1981 war Herr P., einer der wenigen bekannten Punkten in seiner Biografie, mit dem Arm unter ein sich schließendes Tor geraten, ein Arbeitsunfall.
Herr P. würfelt jetzt noch ein wenig mit Zahlen. „Wieviel Bier trinke ich eigentlich?“, fragt er den Betreuer, „abends zwei und dann noch mittags und morgens?“ Sucht, auch seine, lässt sich nicht verbieten. Kontrolliert konsumieren zu dürfen, bedeutet für ihn drei Mal am Tag je eine Dose.
Und sonst? Diese Leere im Kopf, ist da Raum für Wünsche an die Zukunft? „Ich fühl' mich ganz wohl“, sagt Herr P., „manchmal sabbel' ich ein bisschen viel durcheinander. Ich will das gar nicht, aber das kommt dann einfach so aus einem raus.“
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