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Hängende Segel

Wie man sich am Ende der Welt selbst fremd wird: Mit „Der Skorpionsfisch“ wird Nicolas Bouviers Reisebericht aus dem Ceylon der Fünfzigerjahre neu aufgelegt

„… einen Moment von Freiheit wie eine Forelle an den Haken kriegen“

Nicolas Bouviers Buch über den Ort, der ihm eine Zeit lang zum Ende der Welt wurde, beginnt mit schlichten und schönen Sätzen: „Die Sonne und ich waren schon lange auf, als ich mich daran erinnerte, dass ich Geburtstag hatte und dass ich am Vorabend im letzten Bazar, durch den ich gekommen war, eine Melone gekauft hatte. Ich schenkte sie mir, putzte sie bis auf die Rinde aus und wusch mein verschmiertes Gesicht mit dem Rest Tee aus meiner Feldflasche.“

Bouvier, ein junger Schweizer, hat an jenem Morgen im März 1955 eine zweijährige Autotour hinter sich: von Genf aus durch Jugoslawien, die Türkei, den Iran nach Afghanistan und von dort aus weiter durch Pakistan und Indien. 1963 entstand aus verstreuten Aufzeichnungen und Erinnerungen ein Buch, „Die Erfahrung der Welt“, dem weitere Reiseberichte folgten, die Bouvier, der 1998 starb, im französischsprachigen Raum Vergleiche mit Bruce Chatwin eintrugen – darunter auch „Der Skorpionsfisch“, der 1981 erstmals auf Deutsch erschien und nun neu aufgelegt wurde.

Das Buch beginnt an einem geografischen Endpunkt. Der „Bazar“ des Eingangszitats steht am südlichen Zipfel des indischen Festlands, vor Bouvier liegt die Insel, die sein Reiseführer als „Smaragd am Halse des Subkontinents“ beschreibt: Ceylon, das heutige Sri Lanka, Land des Tees und der Dämonen, die ihm noch zusetzen werden. Bekümmert lässt er das Vertraute zurück: „Während zwei Jahren hatte mir die ‚kontinentale Kontinuität‘ als roter Faden gedient … Heute war ich auf einer Insel. Ich hatte keine Erfahrung mit Inseln, die die Probleme auf ihre Weise stellen und lösen.“

„Der Skorpionsfisch“ wäre ein schlechter touristischer Ratgeber: Sein Verfasser unternimmt fast nichts und hat keinerlei Hang zum Dozieren. Stattdessen spürt er seinem inneren Erleben der Umgebung nach, das er anhand weniger Charaktere, Landschaften und Geschehnisse zu Miniaturen destilliert, die von den elementaren Erfahrungen des Reisens handeln – von Regungen wie denen, die einen durchfluten, wenn man sich auf die ungewohnte Schlafstätte legt, der Körper plötzlich still nach einem erschöpfenden Tag, eine Resonanzfläche für die neuen Geräusche, die in der Dunkelheit andauern, die einen umspielen und schließlich einspinnen in den unwirklichen Wachtraum der Fremdheit.

Als Bouvier Ceylon erreicht, trifft er sich mit Freunden, bald jedoch ist er allein und vereinsamt immer mehr. Solange er unterwegs war, auf seiner langsamen, sich selbst genügenden Reise, erschien ihm jeder neue Tag als ein Glücksversprechen. In Ceylon dagegen, in seiner Herberge am Meer, „das ohne weiteren Kommentar geradewegs zum Südpol geht“, ereilt ihn die Angst: „In der Geografie wie im Leben kann es einem unvorsichtigen Vagabunden passieren, dass er in eine Ruhezone gerät, in eine dieser Windstillen, wo die hängenden Segel eine ganze Mannschaft dem Wahnsinn oder der Skorbut ausliefern.“

Wie lange verweilt er dort? Einmal steht da „Ende März“, ein anderes Mal „Freitag“ – die Zeit verschwimmt. Bouvier wird krank, er hält es kaum aus vor Hitze, doch ist er, ganz der grenzerfahrungsdurstige Europäer, entschlossen, sich selbst fremd zu werden. Er findet in Ceylon sein Herz der Finsternis, doch seine Aufzeichnungen bleiben beiläufig und distanziert, weder romantisierend noch aggressiv.

Die Welt wird als Vorstellung beschrieben, und Bouviers Prosa ist dabei so wunderbar sparsam, dass man Zitat an Zitat reihen möchte. „Vom Verfall und vom Klima patiniert, glänzt Indigo Street wie ein Ikone“, erinnert er sich an seine Straße: „Der Wind vom Meer bläst hinein wie in eine Flöte, bringt feine Sandvorhänge zum Tanzen, die auf das Palmdach der Karren rieseln und in flüchtigen Moirierungen über den Boden fliehen. Wie hoch die Sonne auch steht, es herrscht da immer ein Licht wie unter Wasser, richtig dämmerig, wie wenn Indigo Street schon lange mit Hab und Gut samt den Statisten untergegangen wäre.“

In der „wohl tuenden Stofflichkeit“ eines Krämerladens sucht Bouvier Zuflucht vor der Leere, die er um sich herum und in sich spürt, ernennt die Insektenvölker in seinem Zimmer zu seinen Gesellschaftern oder beobachtet Geister und Exorzisten, wie sie ihrem Tagesgeschäft nachgehen. In Gedanken lässt er Shakespeare aufführen unter „dem größten Schmierenkomödiantenhimmel der Welt“. Doch dann entgleiten ihm die mitgebrachten Erinnerungen, und voller „Angst, sachte auf die andere Seite des Spiegels gerutscht zu sein“, sucht er sein Heil in der Sprache: „Dem Thema auf den Leib rücken, hier und da das richtige Wort aufjagen, einen Moment von Freiheit wie eine Forelle an den Haken kriegen.“

Dabei hilft ihm der Geist eines längst verblichenen Jesuitenpaters, dem er eines Nachts auf den Stufen einer Kirche begegnet. Während Bouvier sein schwebendes Körperchen am Rockzipfel festhält, redigiert der Geist seine Texte: „Meine Prosa trug mir große Komplimente ein, aber ich konnte niemandem erklären, welcher Gefälligkeit ich diese Erfolge zu verdanken hatte.“ KARSTEN KREDEL

Nicolas Bouvier: „Der Skorpionsfisch“. Aus dem Französischen von Barbara Erni. Ammann, Zürich 2002, 159 Seiten, 12,50 €

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