Überforderte Flüchtlingshelfer: Einsatz ohne Limit
Alex und Mary-Jane haben einen stressigen Job und kriegen doch keinen Cent. Sie helfen Flüchtlingen auf der Insel Leros.
Sie meint die Strandreinigung und fuchtelt mit einer Plastiktüte vor seinem Gesicht. Widerwillig greift er danach. Dann sprintet sie zum VW-Bus, dreht die Musik lauter und beobachtet sechzehn Flüchtlinge, wie sie sich am Strand nach Glasflaschen und Plastikbechern bücken. „Dreh lauter, Alex!“, ruft der Syrer. Alexandra läuft zur Gruppe zurück, ihre blonden Haare triefen. Mit den Geflüchteten und anderen freiwilligen Helfern tanzt sie im Regen. „Immer noch besser, als im Camp rumzusitzen“, sagt sie.
Alexandra Shaeffer wird hier bloß Alex genannt und von manchen als Idealistin bezeichnet. Oder als Gutmensch. Oder als Weltverbesserin. „Lass die reden“, sagt sie. Seit Jahresanfang ist sie Koordinatorin von Echo100Plus auf der griechischen Insel Leros. Die Hilfsorganisation bietet Freizeitaktivitäten und Sprachkurse für volljährige Flüchtlinge an.
Alex lässt den Motor aufheulen, dann setzt sich der VW-Bus ruckelnd in Bewegung. Hinter ihr liegt das Erstaufnahmezentrum für Flüchtlinge, zu dem außer Polizei und Militär niemand Zutritt hat, auch keine privaten Hilfsorganisationen oder Journalisten. Ein drei Meter hoher Stacheldrahtzaun, Überwachungskameras und Sicherheitspersonal sorgen dafür. An die prüfenden Blicke der Beamten hat sich Alex gewöhnt. Freundlich winkt sie zum Abschied. So wie sie es immer tut, wenn sie die Flüchtlinge mit dem Auto abholt oder absetzt, wie heute nach der Strandputzaktion. Leros ist eine 8.000-Einwohner-Insel und nach einiger Zeit, sagt Alex, kennt hier jeder jeden.
Alex fährt vorbei an Olivenbäumen und unfertigen Ferienhäusern. Sie kennt die kurvige Küstenstraße in- und auswendig. Nach zehn Minuten erreicht sie den Hafenort Lakki, nimmt im Kreisverkehr die zweite Ausfahrt und fährt einige hundert Meter am Ufer entlang. Nach ihrer Lieblingstaverne biegt sie rechts ab und hält abrupt vor einem dreistöckigen Haus mit nackter Fassade. Alex hat das Freizeitzentrum der Hilfsorganisation erreicht. 30 bis 40 Flüchtlinge kommen jeden Tag vorbei, nehmen an Deutsch- und Englischkursen, Kunst- und Sportunterricht teil. Über 200 freiwillige Helfer aus Europa, Nordamerika und Asien haben hier bereits gearbeitet. Manche bleiben einige Wochen, andere, wie Alex, monatelang.
Gleichgesinnte unter sich
„Ich liebe diesen Job, weil man dabei so viele Gleichgesinnte trifft, die unendlich engagiert sind“, sagt Alex. Gleichgesinnte, die etwas bewirken wollen. Gleichgesinnte, die zwischen Uni und Beruf stehen. Gleichgesinnte, die rauswollen, aus dem Alltag, dem sozialen Umfeld, ihrem Leben. Alex studierte Internationale Beziehungen, lebte eine Zeit lang in Berlin und dann in Zürich. Als ihr eine Freundin aus den Staaten von Echo100Plus erzählte, hat sie gerade ihr Bachelorstudium abgeschlossen. Der perfekte Zeitpunkt, um nach Griechenland zu gehen. Im Sommer 2017 arbeitete sie in einem Flüchtlingscamp bei Athen, seit Oktober ist sie auf Leros.
Mary-Jane aus den USA
Das ist eine Art unbezahltes Praktikum hier, sagt Alex. Hier sammelt sie erste Management-Erfahrungen. Zu ihren Aufgaben gehören: Treffen koordinieren, Aufgaben verteilen, Zeitpläne festlegen. Zusätzlich unterrichtet sie Deutsch. Nebenbei denkt sie auch an die Außenwahrnehmung der Organisation. Die Strandputzaktion soll vor allem bei den Einheimischen gut ankommen. Dass die Flüchtlinge den Sinn dahinter verstanden haben, bezweifelt sie. „Wir sollten uns was zum Thema Umweltverschmutzung und Klimaerwärmung überlegen.“ Ein Workshop, sagt Alex, „Irgend so was.“
Sie wirft einen Blick in die Runde, zwölf motivierte Helfer aus den USA, China, Frankreich, Holland, Trinidad und Großbritannien scharren sich um sie. Alle nicken zustimmend, dann geht die Arbeit weiter im Freizeitzentrum. Bastelmaterialien werden sortiert, E-Mails beantwortet, auch Fotos auf Facebook gepostet – ein Gruppen-Selfie von der Strandputzaktion.
Kaffeetrinken ist nicht immer nur einfach Kaffeetrinken
Jeder gibt 180 Prozent, sagt Alex, die weder Feiertage noch Wochenenden kennt. Den Neuen rät sie: „Eure Gesundheit geht vor. Macht Pausen.“ Doch auch sie wollen niemanden hängenlassen, immer helfen. Feste Arbeitszeiten gibt es nicht, um die Mahlzeiten kümmert sich jeder selbst. Was Alex den Neuen noch rät: „Schließt keine Freundschaft mit den Flüchtlingen. Gebt keine Telefonnummern raus.“ Die Organisation hat einen Verhaltenskodex zusammengestellt, der besagt: Die Beziehung zwischen Freiwilligen und Flüchtlingen gleicht der zwischen Lehrern und Schülern. Jedes Wort und jede Bewegung, die darüber hinausgeht, hat Folgen. Alex hat schon einige interkulturelle Missverständnisse miterlebt. „Was in unserer Kultur ein freundschaftliches Kaffeetrinken ist, ist in anderen Kulturen erst nach der Verlobung erlaubt“, warnt sie.
Die Arbeit mit Flüchtlingen ist eine Gratwanderung, genauso wie das Zusammenleben mit der einheimischen Bevölkerung. Viele auf Leros stören sich an den jungen Helfern, die ganz selbstbewusst mit ihren Coffees-to-go durch die Gegend hetzen, vorbei an griechischen Männern, die in den kleinen Cafés einsam ihr Bier trinken und Kette rauchen. Einer von ihnen sagt: „Diese amerikanischen Mädels fühlen sich wohl wichtig. Im Sommer hüpfen sie hier ohne BH rum.“
Der Wirt entgegnet: „Aber die bringen Geld. Die Einheimischen gehen nicht jeden Tag essen.“
Amir, ein syrischer Flüchtling, der seinen vollen Namen nicht nennen möchte, ist begeistert: „Ohne das Programm der Organisation würden wir alle depressiv werden.“ Seit bald zwei Jahren ist er auf Leros und genauso lange kommt er in das Freizeitzentrum. Er hat hier Englisch und ein bisschen Französisch, Zeichnen und kreatives Schreiben gelernt. Die Zeit mit den Helfern aus der ganzen Welt ist eine Ablenkung vom Alltag im Flüchtlingscamp. „Sie motivieren uns jeden Tag aufzustehen.“
Dass sich Helfer mit Flüchtlingen anfreunden, kommt vor. Vor allem die Gleichaltrigen in ihren Zwanzigern verbringen viel Zeit miteinander. Was mit Sympathie anfängt, kann schnell zum Problem werden. „Wir dürfen niemanden bevorzugen“, sagt Alex. Bei manchen wächst der Neid, bei anderen die Hoffnung auf mehr.
Alex erinnert sich an einen Fall vor zwei Monaten. Ein junger Syrer drohte mit Selbstmord, schickte eine Nachricht über WhatsApp an einige Helferinnen. „Manche Flüchtlinge wissen, wie unerfahren wir in solchen Situationen sind. Sie versuchen das Mitgefühl und die Fürsorge auszunutzen und noch mehr Zuwendung zu bekommen“, sagt Alex. Die Frauen sind mitten in der Nacht panisch zum Camp gefahren, wollten dort einbrechen, um ihm zu helfen. Aber jeder Stress mit den Behörden kann das Ende für die Organisation auf Leros bedeuten. „Blöde Aktion“, hängt Alex an und will nicht weiter über den Zwischenfall sprechen. „Das war naiv“, findet ihre Kollegin Mary-Jane Winch. Schichtwechsel.
Mary-Jane will Präsident Trump etwas entgegensetzen
Mary-Jane ist 52 Jahre alt. Die Amerikanerin rutscht mit dem Sitz nach vorn. Sie hasst den VW-Bus, bei dem sich immer wieder der Knauf des Schalthebels ablöst. Ihre langen blonden Haare stecken unter einer Pudelmütze, der Oberkörper in einer Fleece-Jacke. Bevor sie nach Leros kam, hat sie nuklearen Müll in Alaska entsorgt. In den USA wohnt sie abgeschieden in einem Wohnwagen. Wenn sie gefragt wird, warum sie hier ist, antwortet sie: „Ich will das, was Präsident Trump falsch macht, irgendwie wieder gutmachen.“
Sie reist viel. Jedes Mal, wenn sie im Ausland ist, in Afrika, Südamerika oder Europa, schätzt sie wieder mehr, wie gut sie es hat. Dafür will sie etwas zurückgeben, den Flüchtlingen auf Leros zum Beispiel. Einziger Haken: Mary-Jane ist kein Teamplayer, nicht in einer Gruppe mit Anfang-zwanzigJährigen. „Viele schreiben sich ihre Erfahrung hier in den Lebenslauf. Ich bin hier, um anzupacken.“
Weil die Organisation nicht aktiv neue Helfer rekrutiert, sondern über Mundpropaganda funktioniert, kann sich auf Leros niemand aussuchen, wer kommt. Das wichtigste Kriterium? Die Helfer müssen Zeit haben, am besten vier Wochen. Das richtige Alter? Ab zwanzig aufwärts. Die richtige Motivation? Jeder, der helfen möchte, soll helfen können.
Die freiwillige Hilfsarbeit ist eine junge Industrie und lebt vom Idealismus, sagt Mary-Jane. Vor allem junge Leute haben die Zeit und den Willen anzupacken. Und sie können es sich leisten, unbezahlt zu arbeiten. „Wir brauchen diese Energie. Aber wir brauchen auch Leute mit mehr Lebenserfahrung, die wissen, wie man so ein Projekt angeht. Erwachsene, wenn man so will.“ Immer wieder kommt es vor, dass Helfer sich überarbeiten, sich in ihre Zimmer einschließen und nicht mehr ansprechbar sind. Delaney Peterson weiß das.
Berufskrankheit Burnout
Die zierliche 23-Jährige ist in Seattle aufgewachsen, zog fürs Studium nach Paris. Seit zwei Jahren arbeitet sie als freiwillige Helferin, zuerst in Calais in Frankreich, dann in Griechenland. An den Tag, als sie Koordinatorin auf Leros wurde, erinnert sie sich genau: „Am 28. Mai, einem Sonntag, hieß es plötzlich: Delaney, ab morgen machst du die Koordination.“ Ihre Vorgängerin war an Burnout erkrankt, eine Berufskrankheit, sagt sie. „Man stürzt sich in die Arbeit und vergisst alles um sich herum.“
Mary-Jane parkt das Auto vor einem Basketballfeld und landet beim Aussteigen in einer Pfütze. Aus pragmatischen Gründen trägt sie Flipflops: „Damit meine Schuhe nicht nass werden, wenn es regnet, wie heute.“ Dann stellt sie sich an den Rand des Spielfelds und beobachtet eine Gruppe junger Flüchtlinge, die sich gegenseitig den Ball abjagen. Wie lange die jungen Männer noch auf Leros bleiben müssen, weiß niemand. Den Frust darüber bekommt der Ball zu spüren.
Über 700 Geflüchtete leben aktuell auf Leros. Sie sind in Europa angekommen, doch es fühlt sich nicht so an. Die Situation auf griechischen Hotspot-Inseln, wie Leros, ist verfahren: Die Bearbeitung von Asylanträgen dauert monatelang und bis zur Entscheidung, ob die Geflüchteten in der EU bleiben dürfen, sitzen sie hier fest.
Die Wolken ziehen sich zusammen, der Wind fegt über den Basketballplatz, aber Mary-Jane wartet geduldig wie eine Mutter, bis das Spiel beendet ist. „Toll gemacht“, sagt sie dann. „Die respektieren mich, weil ich älter bin. Aber als Mann hätte man es einfacher.“ Die meisten freiwilligen Helfer sind Frauen. Dass sie das Sagen haben, ist für viele Flüchtlinge gewöhnungsbedürftig. Wer in das Freizeitzentrum von Echo100Plus kommt, muss sich respektvoll verhalten. Frauen und Männer sind gleichberechtigt, sie machen gemeinsam Sport, zur Begrüßung gibt man sich die Hand. Für viele ist das neu. „Es kommt vor, dass die Männer im Auto beten, wenn eine Frau am Steuer sitzt,“ sagt Mary-Jane, während sie die Kupplung durchdrückt.
Gegen das Ohnmachtsgefühl ankämpfen
Sie fährt ins Kleiderlager der Organisation, wo Alex und „die Neuen“ bereits im Kreis stehen. Die Regale sind voll mit Winterjacken, Decken und Schuhkartons, auf dem Boden liegen Kleiderhaken. Ein Architekturstudent aus China, eine Wirtschaftsstudentin aus Paris und eine Medizinstudentin aus London stemmen die Arme in die Seiten und lauschen. Mary-Jane hat jahrzehntelange Erfahrung im Projektmanagement. Die Organisation der Kleidung ist genau ihr Ding. „Folgendes: Du sortierst die Kinderjacken. Du holst die Boxen mit Klamotten von da oben runter. Du schreibst alles auf. Wir haben drei Stunden Zeit.“
Aber Alex hat einen anderen Plan, die Frauen diskutieren. Irgendwann wuseln alle durch das Lager, suchen Schuhpaare zusammen, beschriften Kisten, machen Fotos. Als freiwilliger Helfer arbeitet man, weil man etwas gegen das Ohnmachtsgefühl unternehmen will. Und danach trägt man eine Botschaft in die Welt: Unterstützt uns, gerne auch mit Geld- und Sachspenden. Echo100Plus finanziert sich über private Spender und lebt davon, dass viele freiwillige Helfer wiederkommen.
Auch Delaney Peterson hat das so gemacht. Im Sommer 2017 lief ihr Studentenvisum in Europa aus. Sie blieb dennoch in Griechenland, die Arbeit hier war ihr wichtig. Und dann ging alles ganz schnell: eine Strafzahlung von 600 Euro, zurück in die USA. Als sie erneut in die EU einreisen wollte, wurde sie in Athen mit dem nächsten Flieger nach New York zurückgeschickt. „Ich habe sechs Wochen lang versucht ein neues Visum zu bekommen, aber erst zwei Monate später habe ich es zurück nach Griechenland geschafft.“ Mit der Zeit wurde Delaney immer öfter krank, der Stress zu viel, sie konnte nicht mehr. Deshalb ist jetzt Alex dran.
Am Abend sitzt Alex auf einem Sofa im Freizeitzentrum, auf dem Schoß eine kleine Katze. Auf Leros zahlt Alex fünf Euro pro Nacht für ihre Unterkunft, ein von der Organisation gemietetes Apartment. Nachts kriecht die Winterkälte in ihr Zimmer und kühlt den Fliesenboden ab, am Morgen fällt regelmäßig der Strom aus. Den Ausblick auf das ägäische Meer kann Alex noch bis März genießen. Dann muss sie sich entscheiden: ein weiteres Studium in Europa oder zurück in die USA.
Das Freizeitzentrum leert sich, draußen scheint der Mond. Endlich Ruhe, denkt Alex. Dann geht sie in ihrem Kopf die Aufgaben für den nächsten Tag durch. E-Mails, Meetings, Deutschunterricht. Alex ist müde, dabei geht es jetzt erst richtig los.
*Weil Amir gerade auf seinen Asylbescheid wartet, wurde der Name von der Redaktion geändert.
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