piwik no script img

Stealthing-Entscheidung aus Schleswig-HolsteinGummi abziehen doch strafbar

Es ist eine Straftat, wenn Männer das Kondom abstreifen, ohne es Sex­part­ne­r:in­nen zu sagen. Zuvor hatte das Kieler Amtsgericht anders entschieden.

Mit oder ohne? Darüber muss Konsens herrschen Foto: Reproductive Health Supplies Coalition/Unsplash

Rendsburg taz | Miteinander schlafen – gern, aber bitte nur mit Kondom: Ständig treffen Paare, ob hetero oder schwul, solche Absprachen. Doch ist es illegal, wenn sich der Kondomträger nicht daran hält und das Gummi einfach abzieht? In Deutschland gab es bisher kaum Urteile zu dem Thema. Zuletzt hatte das Amtsgericht Kiel einen beschuldigen Mann freigesprochen. Nun entschied das Oberlandesgericht in Schleswig: Das heimliche Abziehen des Kondoms ist als Straftat anzusehen.

„Ein bahnbrechendes Urteil“, sagte Kerstin Bartsch, Anwältin der betroffenen Frau, die als Nebenklägerin auftritt. In Revisionsprozessen gibt es keine Zeugenaussagen, keine Befragungen, nur nüchterne Juristerei – die in diesem Fall aber spannend wie ein Krimi war.

Ausgangspunkt war ein Abend im März 2018, beteiligt ein Mann und eine Frau, die jetzige Nebenklägerin. Beide kannten sich schon eine Weile, hatten eine lockere Beziehung, Sex inklusive, allerdings immer mit Kondom. Auch am konkreten Abend waren die beiden miteinander intim, wie üblich mit Gummi. In einer Pause zog der Mann den Schutz ab, das gab er bei der Verhandlung in Kiel auch zu. Er drang erneut und nun ungeschützt in die Scheide der Frau ein, was sie aber erst nach dem Akt bemerkte.

Der Richter des Amtsgerichts in Kiel hatte den Mann freigesprochen, mit einer formal-juristischen Begründung: Das Gesetz stelle nur unter Strafe, wenn der Akt insgesamt gegen den Willen eines Beteiligten geschehe. Das „Wie“ sei gesetzlich jedoch nicht geregelt (taz berichtete).

„Gefährlicher Sex-Trend“

Der Schleswiger Strafsenat sah das anders, das erklärte der Vorsitzende Martin Probst schon in seiner ersten Stellungnahme. Gleichzeitig machte er deutlich, dass es in dem konkreten Fall nicht um Stealthing, „diesem Hype unter US-College-Boys, den sie als Sport betreiben“, gehe.

„Stealthing“ bedeutet etwa „Heimlichtuerei“ oder „List“. Laut Wikipedia ist der Begriff seit 2014 in der Schwulenszene bekannt, 2017 schrieb der Boston Review über den „gefährlichen Sex-Trend“ bei Heteros. Wie die Taten rechtlich zu beurteilen sind, ist von Land zu Land unterschiedlich, die Bandbreite reicht von nicht strafbar bis Vergewaltigung.

In Deutschland entschied das Berliner Kammergericht im Sommer 2020, es handele sich bei dem dort verhandelten Fall – ein Bundespolizist hatte mit einer Polizeianwärterin geschlafen und das Kondom heimlich abgestreift – um einen sexuellen Übergriff. Allerdings legte das Gericht Wert darauf, dass der Mann in die Scheide der Frau ejakuliert hatte.

Ob der Mann einen Samenerguss hat, könne zwar für die Höhe der Strafe wichtig sein, aber entscheidend sei es nicht, sagte die Anwältin Kerstin Bartsch der taz in einer Verhandlungspause: „Für das Risiko für Krankheit oder Schwangerschaft reicht der nackte Penis. Es geht um den Willen der Frau, ihren Körper zu schützen.“

Das sah auch Richter Probst so: „Es ist völlig klar, dass Geschlechtsverkehr mit Kondom etwas anderes ist als ohne.“ Einerseits, weil die Risiken größer seien, andererseits wegen der stärkeren Intimität: Mit dem Kondom werde „eine Barriere gezogen“. Daher sei es nicht – wie der Kieler Richter geurteilt hatte – ein Akt, der im Ganzen einvernehmlich war, sondern zwei Handlungen oder eben „Taten“: Der einvernehmliche Teil mit Kondom, der nicht-einvernehmliche ohne.

Hat der Mann die Frau also getäuscht? Nein, nicht im juristischen Sinn, befand Probst: „Wir kennen die Fälle von Identitätstäuschung, die manchmal drollig sein können – die Frau meinte, mit dem Prominenten zu schlafen, und dann war’s doch nur der Barmann.“

Doch in diesem Fall wusste die Frau schlicht nicht, was mit ihr geschah und welchem Risiko – einer Schwangerschaft, einer Krankheit – sie ausgesetzt war. „Bei anderen Delikten merkt das Opfer es sofort, hier wird die Schädigung erst später bemerkt“, sagte Kerstin Bartsch, die Anwältin der Nebenklägerin. „Das irritiert uns als Juristen.“

Keine Täuschung, aber eine Straftat

Doch sei auch für sie klar, dass es sich zwar nicht um eine Täuschung handele, aber um eine Straftat: „Der Konsens, der beschlossen wurde, wird gebrochen, weil durch das heimliche Abziehen des Kondoms eine andere Tat entsteht. Diese Möglichkeit hat nur der Träger des Kondoms. Er entscheidet heimlich über den Willen der Geschädigten.“

Der Konsens, der geschlossen wurde, wird gebrochen. Diese Möglichkeit hat nur der Träger des Kondoms. Er entscheidet heimlich über den Willender Geschädigten

Kerstin Bartsch, Anwältin der Nebenklägerin

Staatsanwalt Christopher Sievers schloss sich an, während Dirk Rebien, Verteidiger des Mannes, am Freispruch des Amtsgerichts festhalten wollte: „Es kommt allein auf das Einverständnis an, und dieses gab es.“ Während einer Handlung immer wieder neu über die Einigkeit zu verhandeln, sei „alles andere als lebensnah“. Stealthing sei zwar strafwürdig, aber nicht strafbar – hier müsse das Gesetz verändert werden. Rebien schlug vor, den Fall an den Bundesgerichtshof zu überweisen.

Der Senat lehnte diesen Antrag ab und gab dafür der Nebenklägerin und dem Staatsanwalt recht.

Der Frau steht nun ein zweiter Prozess in Kiel bevor. Dann wird sie erstmals die Chance haben, den Fall aus ihrer Sicht zu schildern – die erste Verhandlung hatte der Richter vor ihrer Aussage beendet. „Meine Mandantin ist gut vorbereitet, sie ist tapfer und will, dass weiterverhandelt wird“, sagt ihre Anwältin.

Links lesen, Rechts bekämpfen

Gerade jetzt, wo der Rechtsextremismus weiter erstarkt, braucht es Zusammenhalt und Solidarität. Auch und vor allem mit den Menschen, die sich vor Ort für eine starke Zivilgesellschaft einsetzen. Die taz kooperiert deshalb mit Polylux. Das Netzwerk engagiert sich seit 2018 gegen den Rechtsruck in Ostdeutschland und unterstützt Projekte, die sich für Demokratie und Toleranz einsetzen. Eine offene Gesellschaft braucht guten, frei zugänglichen Journalismus – und zivilgesellschaftliches Engagement. Finden Sie auch? Dann machen Sie mit und unterstützen Sie unsere Aktion. Noch bis zum 31. Oktober gehen 50 Prozent aller Einnahmen aus den Anmeldungen bei taz zahl ich an das Netzwerk gegen Rechts. In Zeiten wie diesen brauchen alle, die für eine offene Gesellschaft eintreten, unsere Unterstützung. Sind Sie dabei? Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

9 Kommentare

 / 
  • Also es sollte eigentlich völlig klar sein, dass so etwas eine strafe nach sich ziehen sollte. Wir hier auf dem Rücken der Opfer ein Eiertanz hingelegt wird (zum Glück diesmal für das Opfer geurteilt wurde) ist nicht mehr nachzuvollziehen. Aber klar bei einer Männerrunde vor Gericht ist dies nicht überraschend.

  • Der Penis ist schon was besonderes, oder? Wie wäre es beim Dildo - mit oder ohne Kondom drüber? Oder beim nicht vollzogenen Coitus interuptus, wenn vorher was anderes „vereinbart“ war? Oder bei der „vergessenen“ Pille?

    Es gibt also noch viel ungeklärtes in diesem Feld, aber die Puritaner wird’s freuen: Sex ist gefährlich.

  • Der Typ ist ein Arsch!

  • Es wäre ja mal interessant wie das im umgekehrten Fall aussieht.

    Sie behauptet wahrheitswidrig die Pille zu nehmen ...



    Da gab es schonmal Urteile aber jetzt, so zu Zeiten der Gendergerechtigkeit, sicher nochmal einen Blick wert ...

    • @Bolzkopf:

      Purer Revanchismus - und auch völlig unzutreffend. Durch eine wahrheitswidrige Behauptung, die Pille zu nehmen entsteht dem Mann kein körperlicher Schaden. Ein evtl. Kind, darauf möchten Sie wahrscheinlich hinaus, muß nicht zwangsläufig zu seinen Lasten gehen. In der Geburtsurkunde kann auch stehen Vater unbekannt. Nur Ihr worst case, Kind und Alimente, wären zu betrachten. Aber wollen Sie das eine mit dem anderen entschuldigen oder rechtfertigen?

  • Es ist schon lange Zeit, auch juristisch festzuhalten, dass mit dem verheimlichten Abstreifen des Kondoms der Akt nicht mehr einvernehmlich ist.

    Es ist an der Zeit, dies auch gesetzlich zu regeln.

  • Rein juristisch gesehen, halte ich das Urteil für fragwürdig. Und damit meine ich nicht, dass Stealthing nicht bestraft gehört. Es ist aber Aufgabe des Gesetzgebers, dies in das Gesetz aufzunehmen und nicht Aufgabe der Gerichte, etwas strafbar zu machen.

    Das Lehrbuchbeispiel hierfür ist der Entzug der elektrischen Energie. Anfang des 20 Jhd. hatte jmd. eine Leitung um einen Stromzähler herum gebaut. Das Gericht urteilte, dass keine "Sache" gestohlen wurde, da Strom keine Sache sei (nach heutiger pysikalischer Betrachtung, evtl. falsch - damals aber "Stand der Technik"). Wenige Wochen später gab es den Paragraphen zum Entzug elektrischer Energie...

    Dieser Fall hätte zum BGH gehört, um Klarheit zu haben. Ganz nebenbei könnte der Gesetzgeber dies in Windeseile im Strafgesetzbuch verankern. Es dürfte hier ja weitgehend Konsens geben, dass so etwas strafbar sein sollte.

    • @Strolch:

      Ich halte das für eindeutig.

      Mit oder ohne Kondom ist ja keine Kleinigkeit, sondern entscheidet z.B. über die Empfängnisverhütung.

      Wenn man sich die faktischen Folgen einer ungewollten Schwangerschaft vor Augen hält, kann man den "Schaden" gar nicht hoch genug ansetzen. Das ist eine Gefährdung mit Vorsatz, da braucht man keine neuen Gesetze.

      Das sage ich ausdrücklich als Mann.

    • @Strolch:

      Genau bei letzterem würde ich bei Teilen unserer Politiker ein dickes Fragezeichen setzen, um nur mal "Strafbarkeit von Vergewaltigung in der Ehe" zu benennen.