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Soziologe über Putins Regime„Das ist die Rückkehr zur Diktatur“

Ein russischer Oppositioneller muss fünf Jahre ins Straflager. Lew Gudkow sieht eine Verschärfung des Autoritarismus. Das Land sei nicht demokratisch, sagt er.

Polizisten in Moskau –„Wir sehen ein über alle Maßen korruptes System, das damit beschäftigt ist, sich selbst zu verteidigen“, sagt Lew Gudkow. Bild: dpa
Interview von Barbara Oertel

taz: Herr Gudkow, laut dem Ende 2012 in Russland eingeführten NGO-Gesetz gelten auch Sie und Ihr Lewada-Institut als ausländische Agenten …

Lew Gudkow: Noch nicht. Wir haben nicht vor, uns registrieren zu lassen, und werden uns keinesfalls dazu bekennen, ausländische Agenten zu sein. Denn das ist beleidigend und entspricht auch nicht der Wahrheit.

Was könnte auf Sie zukommen, wenn Sie die Registrierung verweigern?

In letzter Konsequenz die Einleitung eines Strafverfahrens und die Schließung der Organisation.

Es gab schon die Prozesse gegen die Punk-Band Pussy Riot, gegen den Blogger Alexej Nawalny und gegen Teilnehmer des Protestes auf dem Moskauer Bolotnaja-Platz im Mai 2012. Jetzt wird auch noch das Lewada-Institut drangsaliert. Stellen diese umfassenden Repressionen eine neue Qualität dar?

In der Tat würde ich von einer neuen Phase in der russischen Geschichte sprechen. Die Repressionen sind eine Antwort des Regimes auf die Welle der Proteste und die Unzufriedenheit im Land.

Im Interview: Lew Gudkow

geboren am 6. Dezember 1946 in Moskau, ist Soziologe. Seit 2006 leitet er das Lewada-Zentrum in Moskau und ist Cheflektor von dessen Publikation „Der Bote der gesellschaftlichen Meinung“. Das Lewada-Zentrum ist derzeit das wichtigste unabhängige Meinungsforschungsinstitut in Russland.

Was sagt das über den gegenwärtigen Zustand der Staatsmacht aus?

Wir haben es nicht nur mit einer Verschärfung des Autoritarismus zu tun, sondern der Rückehr einer politischen Diktatur. Wir sehen ein über alle Maßen korruptes System, das nur noch damit beschäftigt ist, sich selbst zu verteidigen. Demokratische Institutionen, wie die Gewaltenteilung, wurden über Bord geworfen. Nehmen Sie die Rechtsorgane. Diese werden von der Staatsmacht benutzt, um Druck und Zwang auszuüben. Die Gerichte stempeln nur noch die entsprechenden Entscheidungen der Staatsanwaltschaft ab. Sie agieren völlig abhängig und prinzipienlos. Und das alles passiert, ohne auf die Meinung der Menschen in Russland oder in Europa Rücksicht zu nehmen.

Der Fall Nawalny

Die russische Generalstaatsanwaltschaft hat überraschend Beschwerde gegen die Inhaftierung des wegen Veruntreuung verurteilten Oppositionellen Alexej Nawalny eingelegt. Es gebe keine Gründe dafür, teilte die Behörde in Moskau der Staatsagentur Itar-Tass am Donnerstag mit. Der Kremlkritiker Nawalny war am Donnerstag in der Stadt Kirow verurteilt worden.

An diesem Freitag sei sort um 08.00 Uhr (MESZ) eine Verhandlung vor Gericht über die Haftbeschwerde angesetzt, teilte Nawalnys Anwalt Wadim Kobsew der Agentur Interfax mit. Nach dem Urteil hatten sich in vielen Großstädten Russlands Tausende Menschen spontan zu Protesten versammelt. Es gab Dutzende Festnahmen. Der Gegner von Kremlchef Wladimir Putin gilt als prominenter Kämpfer gegen Korruption in Russland.

Nawalny könne, wenn er nun wie in Freiheit komme, doch noch als Kandidat an der Bürgermeisterwahl am 8. September in Moskau teilnehmen, teilte sein Stab mit. Nach seiner Darstellung sieht die Generalstaatsanwaltschaft keinen Grund für die Inhaftierung, weil das Urteil nicht rechtskräftig sei. Ein Richter hatte den 37 Jahre alten Nawalny wegen Veruntreuung zu fünf Jahren Straflager verurteilt. Der Richterspruch löste international Kritik aus. Die Bundesregierung sprach von einem „Schauprozess“. (dpa)

Wohin geht die Entwicklung in Russland?

In der nächsten Zeit wird sich die Entwicklung hin zu einer Diktatur noch verstärken. Und diese Periode wird sehr schwierig werden. Doch das wird nicht mehr allzu lange dauern.

Warum nicht?

Die Verstärkung der repressiven Politik und die Usurpation der Macht durch Putin sind ein Anzeichen für die Schwäche des Regimes. Das alles zeugt von Ineffektivität und der Unfähigkeit, Probleme zu lösen – wirtschaftliche, soziale und politische. Das Land ist bereits jetzt stark gespalten – einer liberaleren moderneren Bevölkerung, die in Großstädten lebt, steht die konservative Provinz gegenüber. Hier herrscht Sowjetnostalgie vor, das heißt die Erwartung, der Staat würde die Menschen unterstützen. Und eine antireformerische Einstellung.

Laut den Trends, die wir festgestellt haben, wird diese Konstellation spätestens in einigen Jahren zu wachsendem sozialem Druck und einer offenen Konfrontation in der russischen Gesellschaft führen. Und ich glaube kaum, dass das Putin’sche politische System das aushält. Schon jetzt wollen 55 Prozent der Befragten, dass Putin zurücktritt, das heißt nicht mehr an den Wahlen 2018 teilnimmt.

Wie sollte der Westen gegenüber Russland auftreten?

Mit diplomatischen Mitteln etwas bewirken zu wollen ist eine Politik, die zu keinem Ergebnis führt. Der Kreml benutzt Politiker, die diese Position vertreten, als nützliche Idioten. Es geht nicht um eine Konfrontation oder um Sanktionen. Doch es geht darum, die Dinge beim Namen zu nennen, das Regime Putins nicht als demokratisch zu bezeichnen. Es muss klar benannt werden, dass Russland die europäischen Konventionen verletzt, die es unterzeichnet hat.

Diese Verlautbarungen, dieses Simulieren einer Demokratie ist schädlich, weil sie dieser Atmosphäre des Zynismus und des Unmoralischen Vorschub leisten. Für die heutigen europäisch-russischen Beziehungen ist ein Defizit an moralischer Klarheit charakteristisch. Es dominiert ein zynischer Pragmatismus, Realpolitik eben. Kurzfristig mag das einige Vorteile bringen, doch langfristig schadet das beiden Seiten.

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18 Kommentare

 / 
  • HS
    Hari Seldon

    Zitat aus dem Artikel: "Und das alles passiert, ohne auf die Meinung der Menschen in Russland oder in Europa Rücksicht zu nehmen."

     

     

     

    1. Die Gerichte sollten auf Basis der FAKTEN und der GÜLTIGEN GESETZESLAGE die Urteile fallen, und nicht auf Basis der Meinung von enigen Wenigen "Oppositionellen".

     

     

     

    2. Russland ist kein Bestandsteil von Europe und ist ein unabhängiger Staat. Auf gut Deutsch, sind die russuschen Gesetze in Russland gültig, und nicht die Meinung von Fremden (z.B., aus Europe). Btte, was würden wir sagen, dass in Sachen von Deutschland die Meinung von Russland, China, usw. maßgebend wäre?

  • @ taz

    Irgendwas funktioniert an der Kommentarfunktion nicht. Bei mir kommen nur Textfragmente an.

    • B
      Benz
      @lions:

      Der Rechtsextreme Nawalny (er sagte z.B. einst, Kaukasier seien Kakerlaken) wurde nun auch der Korruption überführt.

       

      Was diktatorisch sein soll, wenn ein korrupter Politiker verurteilt wird, steht im Artikel leider nicht.

  • Die gleichgeschaltete Justiz ist einer der Grundpfeiler des Putinistischen Systems.

    Die Verurteilungsquoten (>99%) sind sogar höher als unter Väterchen Stalin unselig.

  • W
    wladimir

    in deutschland verbitten wir einmischung in innere angelegenheiten,doch die russische und ukrainische justiz soll unsere vorstellung vom strafmaß umsetzen.ob Tymoschenko oder jetzt Nawalny.es heißt immer politisch motiviertes urteil,die frage für welches vergehen sie verurteilt wurden stellt keiner mehr.Tymoschenko wurde jahrelang von interpol gesucht,ihr stellvetreter sitzt in den usa wegen mordes und auch

    Nawalny ist kein unschuldslam.die unterschlagung von fast 2 millionen rubel ist ja unbestritten und das harte strafmass wünsche ich mir für die wirtschaftskriminellen die unsere lebensmittel vergiften hier.mir ist ein starkes russland mit putin lieber als ein

    • @wladimir:

       

       

      "Nawalny ist kein unschuldslam.die unterschlagung von fast 2 millionen rubel ist ja unbestritten"

       

       

      Haben Sie denn dafür Beweise, dass es so ist ? Andernfalls trauen sie der russ. Justiz blind.

      Tymoschenko ist als Wirtschaftsverbrecherin sehr früh bei den Deutschen gefallen und wie die westl. Politiker darüber urteilten, ist ein anderes Blatt

  • E
    Egal

    Das der Staat Bedürftige unterstützt ist wirklich die reinste Diktatur!

  • Das wird sich doch immer wiederholen in Russland: Wirtschaftlicher Zusammenbruch, etwas Neues, läuft nicht, dann irgendeine Diktatur oder Monarchie, Zusammenbruch. Wieso?

     

    Mich würde wirklich mal interessieren, was die grundlegenden Probleme in Russland sind. Wie kommt es, dass Demokratie es in Russland so schwer hat?

     

    Ist es die riesige Fläche des Landes? Insgesamt zu wenig Bodenschätze? Zu viele Katastrophen? Zu sehr Randlage?

  • Was Putin mit der Feststellung bezweckt, kritische russische Bürger seien ausländischen Agenturen zuzuordnen, ist offensichtlich. Bei einer Zuspitzung der innenpolitischen Lage kann Putin sie einfach verbieten lassen. Dahinter steckt vorrausschauendes Kalkül.

    Diktatoren bedienen sich oft der Floskel, Freiheitsbewegungen sind vom Ausland gelenkt, doch Putin versucht als

    • A
      Absatz
      @lions:

      Fortsetzung:

  • Selber Huhu!

  • S
    Seltsam

    Hm, also wenn ich jetzt vom Staat Unterstützung erwarte, bin ich ein Anhänger oder eine Anhängerin des Sowjetkommunismus?

     

    Also ich hatte das irgendwie anders im Kopf ...

  • M
    Mattes

    Jep, gefällt mir auch.

  • Lalon Sander , Autor*in , Datenjournalist

    Huhu!!!

    • @Lalon Sander:

      Selbst Huhu!

  • Frauke Böger , Autorin , Leiterin taz.de (ehem.)

    hallo

    • @Frauke Böger:

      Sehr guter Artikel!

      Die Verurteilungsquote ist heute unter Putin schon höher als weiland bei Stalin ( >99%)

      Urteile werden direkt von oben an die "Justiz" durchgegeben, wer dabei nicht mitmacht, fliegt.

  • BG
    Bernd Goldammer

    Unabhängig kann für Ihren Soziologen so nicht stimmen. Dann wäre er nämlich skelettiert. Sein Geld bekommt dieser Mensch doch aus dem Westen. Doppelt so viel wie ein russischer Soziologe. Warum fälschen Sie das einfach ab,Frau Oertel? Lew Gudkow erhält seinen Lohn garantiert nicht dafür, dass er Herrn Putin lobt. Solche Wadenbeißereien müssen sehr gut bezahlt werden. Das Ganze ist also ziemlich abgefeimt. Der Name Barbara Oertel bürgt inzwischen für solche Qualitäten. Zum Glück wird in Russland nicht nach deutscher Rechtsstaatlichkeit verfahren. Sonst wäre der Verurteilte vielleicht schon seit sieben Jahren in der Psychiatrie verschwunden, wie Gustl Mollath. Oder er würde wie Pfarrer König vor ein Dresdner Gericht gezerrt, in dem Staatsdiener falsche Aussagen machen dürfen, ohne je dafür belangt zu werden. Bei Landfriedensbruch geht es in Deutschland übrigens auch um fünf Jahre. Würden Sie die TAZ lesen, wüssten Sie das Königs Verfahren trotz klarer Beweislage bis heute noch nicht eingestellt worden ist.