Sexueller Missbrauch in der Türkei: Verschleppungstaktik der Regierung
Die Rechtslage zu Sex mit Minderjährigen ist unklar. Die Regierung begründet die fehlende Neuregelung mit Arbeitsüberlastung.
Das Gericht machte dafür eine ungeklärte Rechtssituation verantwortlich. Denn Gerichte überall in der Türkei stellen sich zur Zeit die Frage: Ist Sex mit Minderjährigen überhaupt noch strafbar?
Der Grund dafür ist ein Urteil des Verfassungsgerichts vom Juni dieses Jahres. Auf Antrag eines Bezirksgerichts aus Bafra, einer konservativen Stadt an der Schwarzmeerküste, entschied das Verfassungsgericht, dass das geltende Recht, nachdem jede sexuelle Handlung mit Minderjährigen unter 15 Jahren mit mindestens acht Jahren Haft bestraft werden muss, so nicht mehr gelten soll.
Damit folgte das Verfassungsgericht mit knapper Mehrheit der Argumentation der unteren Instanz. Diese ist der Meinung, es müsse ein Unterschied gemacht werden bei Kindern zwischen 12 und 15 Jahren und noch jüngeren Kindern. Kinder zwischen 12 und 15 Jahren könnten den Sinn sexueller Handlungen erfassen und dem möglicherweise zustimmen.
Vielleicht zu Unrecht im Gefängnis
Das Verfassungsgericht beauftragte die Regierung, innerhalb von sechs Monaten das Gesetz zu überarbeiten. Offiziell ist das alte Recht noch in Kraft, aber das Istanbuler Gericht stellte sich nun auf den Standpunkt, der verurteilte 73-jährige Mann würde vielleicht zu Unrecht im Gefängnis sitzen. Und zwar dann, falls im Januar, wenn nach Ablauf der Frist ein neues Gesetz kommt, sexuelle Handlungen mit Kindern zwischen 12 und 15 Jahren straffrei gestellt würden. Deshalb konnte der Täter erst einmal nach Hause gehen.
Diese Entscheidung löste heftige Proteste aus. Die Tageszeitung Hürriyetmachte daraus ihre Schlagzeile, Frauenverbände und Menschenrechtsorganisationen protestierten. Nach zwei Tagen Debatte musste der ältere Herr dann doch erst einmal in den Knast.
Denn auch der türkischen Regierung war die Entscheidung peinlich. Hatte sie doch noch im vergangenen August Anschuldigungen aus Österreich und Schweden entrüstet zurückgewiesen, die genau die mögliche Straffreiheit für Sex mit Kindern kritisiert hatten.
Mitte August hatte die schwedische Außenministerin in Bezug auf das Verfassungsgerichtsurteil öffentlich erklärt: „Die türkische Entscheidung, Sex mit Kindern unter 15 Jahren zu erlauben, muss rückgängig gemacht werden.“ Voller Empörung bestellte die Türkei den schwedischen Botschafter ein, der sich für diese Diffamierung entschuldigen sollte. Es gäbe keine Straffreiheit für Sex mit Minderjährigen. Das sei „dummes Gerede“ behauptete Vizeregierungschef Mehmet Simsek. Jetzt also doch?
Mit anderen Dingen beschäftigt
Bislang hat das Justizministerium im Anschluss an die Verfassungsgerichtsentscheidung noch keinen neuen Gesetzentwurf vorgelegt. Man sei wegen der Ereignisse nach dem Putschversuch vom 15. Juli mit anderen Sachen beschäftigt gewesen, sagte der Justizminister.
Doch es ist wohl nicht nur Arbeitsüberlastung, die eine gesetzliche Neuregelung in Sachen Sex mit Minderjährigen verhindert. Die islamische AKP-Regierung hat ein grundsätzliches Problem und das sind die zunehmenden Zahlen von Kinderehen gerade unter ihrer Klientel. Gesetzlich ist das Mindestalter für Heirat bei Mädchen 16 Jahre, doch es gibt immer häufiger Ausnahmen.
Gerade auf dem Land sind in den religiösen Familien vom Imam geschlossene Kinderehen keine Seltenheit mehr, sondern angesichts der Islamisierungstendenzen sogar auf dem Vormarsch. Offenbar würde die AKP-Regierung diese Fälle tatsächlich gerne straffrei stellen – es soll nur niemand merken.
40.000 mal Danke!
40.000 Menschen beteiligen sich bei taz zahl ich – weil unabhängiger, kritischer Journalismus in diesen Zeiten gebraucht wird. Weil es die taz braucht. Dafür möchten wir uns herzlich bedanken! Ihre Solidarität sorgt dafür, dass taz.de für alle frei zugänglich bleibt. Denn wir verstehen Journalismus nicht nur als Ware, sondern als öffentliches Gut. Was uns besonders macht? Sie, unsere Leser*innen. Sie wissen: Zahlen muss niemand, aber guter Journalismus hat seinen Preis. Und immer mehr machen mit und entscheiden sich für eine freiwillige Unterstützung der taz! Dieser Schub trägt uns gemeinsam in die Zukunft. Wir suchen auch weiterhin Unterstützung: suchen wir auch weiterhin Ihre Unterstützung. Setzen auch Sie jetzt ein Zeichen für kritischen Journalismus – schon mit 5 Euro im Monat! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!