Nachruf Imre Kertész: „Damit du leben kannst“
Der ungarische Literaturnobelpreisträger Imre Kertész starb im Alter von 86 Jahren. Er überlebte Auschwitz und das prägte sein Schaffen.
Dazu passt auch, wie Imre Kertész oft beschrieben wird. Er selbst hat sich in einer seiner vielen veröffentlichten Tagebuchaufzeichnungen als „hedonistisch“ bezeichnet. Menschen, die ihm begegnet sind – von 2001 bis 2012 hat Kertész in Berlin gelebt – betonen seine Höflichkeit und seine Selbstironie.
Wenn man sich klarzumachen sucht, was den Lauf dieses Lebens und vor allem aber auch den Rang seines Schreibens ausmacht, kann man aber auch auf ein ganz anderes Foto stoßen. Es zeigt einen ausgemergelten Jungen mit glattrasiertem Kopf und dünnem Hals. Er trägt Sträflingskleidung, im unteren Bereich des Bildes steht eine Nummer: 0 24 6 44 21.
Das Foto ist ein Schock. Mit den späten Bildern des berühmten Schriftstellers, Nobelpreisträgers und freundlichen Herren bekommt man es nicht zusammen. Und doch ist das auch Imre Kertész, der bis zu seiner Befreiung am 11. April 1945 durch die Amerikaner 329 Tage in Konzentrationslagern gefangen gehalten worden war. Bereits im September 1945 saß er, wie seine Biografin Irene Heidelberger-Leonard anmerkt, schon wieder auf derselben Schulbank des ungarischen Gymnasiums, aus dem er ein Jahr zuvor geholt worden war. Die Biografin: „Über die Umstände seiner Abwesenheit wurde nicht gesprochen, niemand stellte Fragen, und er gab nichts preis.“
Die Gräuel vergessen, „damit du leben kannst“
Genau dieser Umgang mit der Geschichte, das Beschweigen, wird von Imre Kertész in seinem Hauptwerk, dem „Roman eines Schicksallosen“ als Überlebensstrategie beschrieben. „Vor allem musst du die Gräuel vergessen“, bekommt der jugendliche Ich-Erzähler gesagt, in dem Kertész seine eigenen Erlebnisse in Auschwitz und Buchenwald beschreibt. „Wieso?“, fragt er zurück. „Damit du leben kannst“, bekommt er zur Antwort.
Imre Kertész selbst gelang ein anderer Weg. Verbissen, oft genug, wie er in autobiografischen Auskünften beschrieben hat, auch immer wieder hoffnungslos kämpft er von 1960 an gut ein Dutzend Jahre darum, seine Erfahrungen literarisch zu verarbeiten. Heraus kam Mitte der siebziger Jahre – und zunächst überhaupt nicht gewürdigt – der „Roman eines Schicksallosen“, eine der größten, nachhaltigsten und zugleich herausforderndsten Leseerfahrungen, die die Weltliteratur bereit hält. Herausfordernd keineswegs deswegen, weil es besonders kompliziert oder umfassend wäre. Das Buch ist eins dieser Meisterwerke, die einem gar nicht auftrumpfend entgegentreten, sondern fast leise und einem doch alle gewohnten Sichtweisen durcheinanderwirbeln können.
Der Roman ist konsequent aus der Perspektive eines Jugendlichen erzählt, der Auschwitz nur überleben konnte, indem er seine Individualität ganz aufgab und sich restlos dem System des KZ unterwarf. Er akzeptiert die totale Herrschaft über seinen eigenen Körper und sein eigenes Schicksal und macht sich damit, so eine der harten Thesen, die Kertész in seinen Essays erläutert hat, ebenso am Fortbestehen des KZs schuldig wie die Henker. Kertész: „Die Unschuldigen sind die, die gestorben sind. Aber einer, der das durchlebt hat, kann […] nicht ganz ohne diese allgemeine menschliche Beschmutzung sein.“
Das „schöne Konzentrationslager“
Seinen Rang als Autor macht aus, dass Kertész diese Erfahrung literarisch durchdrungen hat, bis hin zu solchen zunächst unangemessen klingenden, aber doch genauen Wendungen wie die vom „schönen Konzentrationslager“: „Und alles Abwägen, alle Vernunft, alle Einsicht, alle Verstandesnüchternheit half da nichts – in mir war die verstohlene, sich ihrer Unsinnigkeit gewissermaßen selbst schämende und doch immer hartnäckiger werdende Stimme einer leisen Sehnsucht nicht zu überhören: ein bisschen möchte ich noch leben in diesem schönen Konzentrationslager.“
Kertész ist ein Autor, der als Überlebender mit sich selbst ins Gericht ging. Und genau damit, vielleicht kann man es so pathetisch sagen, holte er sich sein Schicksal zurück. In einem Interview sagte er: „Schicksallosigkeit bedeutet, Menschen werden gezwungen, ein Schicksal zu leben, das eigentlich nicht ihres gewesen ist.“ So etwas den Menschen anzutun, warf er sein Leben lang den Nazis vor und auch den kommunistischen Regimen des Kalten Krieges.
Die Literatur bot ihm – auch in seinen anderen Romanen „Fiasko“ und „Kaddisch für ein ungeborenes Kind“ sowie in seinen autobiografischen Büchern wie „Galeerentagebuch“ und „Ich – ein Anderer“ – die Möglichkeit, dieser Schicksallosigkeit reflektierend zu entkommen, indem er sie unerschrocken analysierte: eine ungeheure Leistung.
2002 erhielt Imre Kertész den Nobelpreis. Im November 2012 zog er, parkinsonkrank, von Berlin in seine Geburtsstadt Budapest zurück. Am 31. März 2016 ist er im Alter vor 86 Jahren gestorben.
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