NSU und Geheimdienst: Die große Verschwörung
Der Mord an Halit Yozgat nährt in rechten Kreisen die Vermutung, der NSU sei vom Geheimdienst kontrolliert worden.
MÜNCHEN taz | Kein auffälliges Geräusch will er gehört, keine leblosen Körper gesehen haben. Die Rolle des ehemaligen hessischen Verfassungsschutzmitarbeiters Andreas T. in dem Mord an Halit Yozgat im April 2006 in Kassel ist unklar – und nährt deshalb Verschwörungstheorien von Rechts.
Am Mittwoch, dem 39. Verhandlungstag im NSU-Verfahren vor dem Oberlandesgericht München, wurde der Mord an dem 21-jährigen Yozgat erstmals verhandelt. Der junge Mann, der in seinem Internetcafé im Kassler Stadtteil Nord-Holland mit zwei gezielten Pistolenschüssen niedergestreckt wurde, war das mutmaßlich neunte und vermutlich vorletzte Todesopfer der NSU-Mordserie, die laut Anklage Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe zur Last gelegt wird. Er verblutete in den Armen seines zur Hilfe herbeigeeilten Vaters, den er zum Tatzeitpunkt nur kurz vertreten hatte.
Verfassungsschutzmitarbeiter T. war just am Tag des Mordes in Yozgats „Tele-Internet-Café“. Gut eine Minute vor den tödlichen Schüsse will er, den Kollegen „Klein Adolf“ nannten, das Lokal in dem er regelmäßig in Partnertauschbörsen chattete, verlassen haben. Als einziger Zeuge meldete er sich später nicht bei der Polizei.
Auch deshalb, weil der frühere hessische Innenminister und ehemalige Ministerpräsident Volker Bouffier (CDU) direkte Fragen an den Verfassungsschutzmitarbeiter von Seiten der Polizeiermittler unterband, ranken sich nun besonders um diesem Mordfall die Verschwörungstheorien.
Eine Variante lautet: T. könnte Mitglied einer geheimen Geheimdiensttruppe gewesen sein, der das NSU-Trio als Zelle anwarb. In rechten Kreisen kursiert die Idee, die NSU-Zelle sei eine „Erfindung der Geheimdienste“ gewesen, um der Neonaziszene empfindlichen zu schaden.
Verstrickungen von V-Leuten
Seit dem Aufliegen des NSU-Kerntrios wird die NPD-Führung nicht müde von einem Geheimdienst-Phänomen zu sprechen. Doch nicht nur sie. Auch die Redaktion von Compact um den Chefredakteur Jürgen Elsässer, einst Redakteur bei der Jungen Welt, der Jungle World und Konkret, sieht die große Verschwörung „der Geheimdienste“ beim NSU.
Vor Prozessbeginn brachte die Redaktion das „Compact Spezial: Neonazis, V-Männer und Agenten“ heraus. In der Sonderausgabe führt vor allem der Hauptautor Kai Voiss alle Verstrickungen von V-Leuten, das Schweigen über Geheimdienstaktionen und die Vernichtung von Akten an, um die NSU-Zelle als inszeniert erscheinen zu lassen.
Auf 84-Seiten werfen die Autoren offene Fragen und vermeintliche Unstimmigkeiten zum NSU auf, um sie zu der vermeintlichen Antwort zu verdichten, dass das Trio wäre eine „abhängige und weisungsgebundene Einheit eine größeren Untergrundnetzwerkes“ gewesen, denen die Bekennervideos „mitsamt den Waffen“ untergeschoben worden seien. „Ziel der Dienste ist es nämlich, die Zelle weiter zu radikalisieren und im bereits anlaufenden Verfahren zum Verbot der NPD öffentlichkeitswirksam einzusetzen“, heißt es in dem Text.
Belastung von V-Leuten
Möglich erscheint, dass die Verteidigung des Mitangeklagten Ralf Wohlleben, der beschuldigt wird, den NSU massiv unterstützt zu haben, diese Theorien im Laufe des Prozesses aufgreifen wird.
Wohllebens Verteidigerin, Nicole Schneiders, die selbst in der NPD aktiv war, hatte zu Beginn der Verhandlung besagte Compact Spezial-Ausgabe auf dem Tisch liegen. Auch wollte die Anwältin die Sondernummer des Monatsmagazins bereits in den Prozess einführe. Wie die Redaktion von Compact im Juli 2013 berichtet, habe sie sich in ihrem Antrag auf die Sonderausgabe bezogen. Durch die Belastung von V-Leuten hofft sie offenbar ihren Mandanten zu entlasten. Der Vorsitzende Richter Manfred Götzl lehnte Schneiders Antrag jedoch ab.
Der ehemalige Verfassungsschutzmitarbeiter Andreas T. ist am kommenden Dienstag in München als Zeuge geladen.
In Kooperation mit Radio Lora München, www.lora924.de
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Pistorius lässt Scholz den Vortritt
Der beschädigte Kandidat
Böllerverbot für Mensch und Tier
Verbände gegen KrachZischBumm
Haftbefehl gegen Netanjahu
Begründeter Verdacht für Kriegsverbrechen
Utøya-Attentäter vor Gericht
Breivik beantragt Entlassung
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin