Missbrauchsbeauftragter über Stillstand: „Bei Opfern ist nichts angekommen“
Braucht es eine härtere Gangart, wenn die Regierung ihre Beschlüsse im Kampf gegen Missbrauch nicht einhält? „Ja“, meint der Unabhängige Missbrauchsbeauftragte Rörig.
taz: Herr Rörig, ist der Runde Tisch gegen sexuellen Missbrauch gescheitert?
Johannes-Wilhelm Rörig: Der Runde Tisch ist nicht gescheitert. Er hat in seinem Abschlussbericht 2011 wegweisende Empfehlungen vorgelegt, denken Sie an das Hilfesystem für Opfer sexueller Gewalt mit 100 Millionen Euro.
Aber von diesen umfangreichen Forderungen ist doch bis heute so gut wie nichts umgesetzt!
Es wäre erfreulich, wenn die Verantwortlichen schon weiter wären. Von den beschlossenen Hilfen ist bisher leider nichts bei den Opfern von sexueller Gewalt angekommen. Die Verantwortung dafür liegt beim Bund und bei den Ländern – etwa, um die großen Lücken im Netz der Beratungsstellen gegen sexualisierte Gewalt an Kindern zu schließen. Diese Vorschläge müssen jetzt unbedingt Wirklichkeit werden. Die Zeit drängt, weil die Wahlperiode abläuft.
Am Mittwoch wird am Runden Tisch Bilanz gezogen. Was ist Ihrer Ansicht nach jetzt besonders wichtig?
Die Öffentlichkeit und wir müssen aufpassen, dass hohle Erbsen nicht zu goldenen Erbsen erklärt werden und am Ende als glänzende Goldbarren erscheinen.
, 54, ist der Unabhängige Beauftragte für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs, also so etwas wie der Anwalt der Betroffenen. Er ist der zweite Beauftragte nach Christine Bergmann.
Was meinen Sie konkret?
Ich bin sehr gespannt, wann der versprochene Hilfefonds an den Start geht. Und ich bin auch gespannt, mit welchem Fahrplan die Justizministerin es zusammen mit der Regierungsmehrheit schaffen will, dass das wichtige Gesetz zum Schutz von Opfern sexualisierter Gewalt noch vor der Wahl beschlossen wird. Sonst wird bis zu diesem Sommer nichts mehr umgesetzt werden.
Warum ist der für Opfer oft so lebenswichtige Hilfenfonds noch nicht da?
Ich weiß das auch nicht. Aber wir haben immer noch die Chance, dass endlich das Versprechen der Bundesregierung gegenüber den Betroffenen eingelöst wird. Die Unsicherheit der Betroffenen, ob der Fonds überhaupt kommt, ist geradezu unerträglich. Diese Unsicherheit muss endlich beseitigt werden. Bund und Länder dürfen ihren Streit über Zuständigkeiten nicht weiter auf dem Rücken der Betroffenen austragen.
Frage an den Anwalt der Betroffenen: Wo ist das Geld?
Die 50 Millionen Euro, die der Bund beisteuern möchte, liegen beim Finanzminister bereit. Sie stehen noch unter dem Vorbehalt, dass eine Mitfinanzierung der Länder um die gleiche Höhe des Betrags erfolgt. Sollte es dem Bund aber nicht gelingen, die Länder mit ins Boot zu holen, dann sehe ich die Bundesregierung in der Pflicht, den Vorbehalt aufzuheben – und bereits jetzt mit den 50 Millionen Euro an den Start zu gehen.
Wäre der Fonds denn arbeitsfähig – auch ohne die Länder?
Das wäre möglich. Die Regeln sind sehr weit erarbeitet, das bisher vorgesehene Verfahren entspricht den Empfehlungen des Runden Tisches, und ich trage es mit. Es stellt sicher, dass die Betroffenen eine opferschonende Antragsberatung bekommen. Es gibt eine Beschwerdeinstanz und Opfervertreter sind im Beirat vertreten, der so genannten Clearingstelle.
Die Gesellschaft ist in Bewegung. Wieso ist es die Politik nicht?
Die Zivilgesellschaft hat sich auf den Weg gemacht, den Schutz von Kindern und Jugendlichen vor sexualisierter Gewalt zu verbessern. Zum Beispiel haben viele Verbände mit mir vereinbart, die Einführung von Schutzkonzepten gegen sexuelle Gewalt und unsere Kampagne „Kein Raum für Missbrauch“ zu unterstützen. Diese erhöhte Sensibilität wird aber leider nicht durch aktives Handeln der Politik untermauert. Die Politik hätte, sowohl Bund als auch die Länder, viele Verbesserungen für Betroffene schon 2012 umsetzen müssen.
In manchen Ländern gibt es halbamtliche Untersuchungs-Kommissionen, die in kurzer Zeit glaubwürdige Untersuchungsberichte vorlegten – etwa im Fall des DJs, Moderators und Hundertfachen Pädokriminellen Jimmy Savile in Großbritannien. Das bringt zwar keine strafrechtliche Verfolgung mehr, aber gibt den Opfern die Chance, offizielle Anerkennung zu finden. Wieso gibt es solche Untersuchungskommissionen bei uns nicht?
Mein Fachbeirat und ich werden im April ein Hearing dazu durchführen, weil wir so etwas Ähnliches auch für Deutschland wollen. Wir sind der Überzeugung, dass der Bund für die unabhängige und systematische Aufarbeitung von Missbrauchsfällen eine Verantwortung trägt. Deswegen wollen wir die rechtlichen Voraussetzungen dafür schaffen.
Sie stehen in engem Kontakt mit den Opfern. Was ist deren Haltung zum lähmenden Stillstand in der Politik?
Da ist eine große Frustration spürbar. Ich erkenne bei den Betroffenen eine tiefe Enttäuschung darüber, dass die Politik sie im Stich lässt.
Haben Sie einmal über Rücktritt nachgedacht?
Ich habe die Aufgabe übernommen, an der Seite der Betroffenen die Umsetzung der Vorschläge des Runden Tisches zu unterstützen und auch zu beschleunigen. Ich hoffe nicht, dass die Bundesregierung morgen mit leeren Händen an den Runden Tisch tritt!
Was heißt das?
Es geht letztlich darum, die große Wertschätzungdie die Bundeskanzlerin den Betroffenen sexueller Gewalt gegenüber zum Ausdruck gebracht hat, jetzt materiell unter Beweis zu stellen. Ich denke darüber nach, die Regierungschefin an ihre mitfühlenden Worte zu erinnern.
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