Junge EuropäerInnen in Berlin: Europa wohnt jetzt hier
Europa ist eine seelenlose Maschine in Brüssel, behaupten die Rechten. Stimmt nicht: Es ist jung, feiert gern und arbeitet hinter dem Tresen.
BERLIN taz | Zu sagen, Europa liege in Brüssel, ist AfD: politisch, historisch und empirisch falsch. Wenn Europa nicht schon im Ehebett liegt oder auf die Kinder aufpasst, dann findet man es spätestens vor der Haustür. Europa ist zwischen 20 und 30 Jahre alt und lungert beispielweise vor „Mein Haus am See“ herum, einer Bar am Rosenthaler Platz in Mitte, die mit dem Slogan „Hippies are welcome“ wirbt.
Geht man ein bisschen weiter durch die gut erhaltene Kulisse von Döblins „Berlin Alexanderplatz“, kann man fast alle europäischen Sprachen hören, und nicht nur die. Europa ist nicht nur zu Besuch, Europa wohnt jetzt auch hier. Die Einheimischen, deren Einheimischkeit oft darin besteht, dass sie schon vor drei Jahren nach Berlin gezogen sind, müssen manchmal ihr Bier auf Englisch an der Bar bestellen, weil hinter dem Tresen Europa arbeitet, das gerade hier studiert. Aber ein bisschen Weltläufigkeit hat noch keinem geschadet. One beer, please! No, not Budweiser, Augustiner! The big one, yes.
Kommt man beim Abendspaziergang an dem kleinen Park neben der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz an, ist da gar nichts los: Montag. Am Wochenende treffen hier Brandenburger Jugendliche auf Europa, das in den Hostels auf der gegenüberliegenden Straßenseite untergebracht ist. Nachts führt es hier einen wabernden, leicht aufgeregten Flashmob auf und macht mit Bier vom Kiosk, den Vietnamesen betreiben, Party. Die Brandenburger spielen dazu Techno aus dem Auto.
Auf einer Bank sitzen Ane und Irene, 22 und 18. Ane arbeitet in einem Reformhaus, Irene ist Sekretärin in einer Surfschule. Die Wellen von San Sebastian sind dem surfenden Europa legendär, sagt Irene, bessere Wellen gibt es nirgends. Die Schwestern machen jedes Jahr ein paar Tage zusammen Urlaub. Sie haben beide im Juni Geburtstag, aber da haben sie keine Zeit zu reisen. Im vergangenen Jahr waren sie in London, in diesem Frühling wollten sie nach Amsterdam. Berlin war aber billiger. Berlin finden sie sehr grün, das ist ihnen schon beim Anflug aufgefallen.
„What the fuck?“
Es ist ihr erster Tag. Am Nachmittag sind sie angekommen und haben festgestellt, dass Badbadnotgood heute abend in Berlin spielen: „Que coño?“, sagt Ane und schiebt gleich die Übersetzung nach: „What the fuck?“ Soll heißen: Das kanadische Jazztrio ist Anes Lieblingsband. Die Jungs und sie sind auch ungefähr gleich alt.
Im Grünen Salon der Volksbühne wartet man schon ungeduldig auf Badbadnotgood. Als die drei auf die Bühne kommen und zu spielen beginnen, dreht Europa durch und hüpft wie verrückt auf und ab. Der Fußboden gerät in eine beeindruckende, leicht beängstigende Schwingung. Die Temperatur schraubt sich in schwindelerregende Höhen. Und da sind auch Ane und Irene wieder. Sie finden es super, aber jetzt doch etwas zu heiß. Es geht wohl immer so zu, wenn Badbadnotgood auftreten. Aber so viel geschwitzt haben sie noch nirgends, sagt der Schlagzeuger.
Irgendwann ist der Spaß vorbei. Die Jungs aus Kanada müssen ins Bett, und Europa geht nach Hause, nach Kreuzberg, Neukölln und Wedding.
Vor unsrem Haus hat derweil ein Querfrontantisemit Angela Merkel Vampirzähne in den Mund, einen Hitlerbart unter die Nase und ein Euro-Symbol auf die Stirn gemalt. Wie gut, dass man mit solchen Typen nicht mehr allein ist.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Juso-Chef über Bundestagswahlkampf
„Das ist unsere Bedingung“
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen