Im Nachlass stöbern: Niemand antwortet mehr
Entrümpler sind die Letzten, die sich ein Bild vom Leben mancher Verstorbener machen. Was bleibt, wenn man nicht mehr ist?
Heinz Ocvirk war einsam, als er starb. Der 7. Januar 2013 ist sein Todestag.
Monate später stehen fremde Männer in seiner Wohnung in einem Vorort von München - ein Zimmer, Küche, Bad - und wühlen sich durch sein Leben. Viel ist es nicht, das übrig geblieben ist davon. Ein paar Fotos, Dias, Postkarten, ein wenig Nippes und Bücher. 70 Jahre verteilt auf 30 Quadratmeter.
Die Wohnung sieht aus, als wäre Herr Ocvirk kurz einkaufen gegangen, als habe er die Sachen abgelegt, um sie bald wieder zu nutzen. Da die Nagelschere auf dem kleinen Tisch, dort das Handy-Ladegerät in der Ecke (wo ist das Handy?), der Schwamm in der Spüle, das Marmeladenglas auf der Schrankablage. Er war nicht vorbereitet auf den Tod. Nur der kleine Weihnachtsbaum aus Plastik, der immer noch auf dem Sideboard steht, wirkt jetzt wie aus der Zeit gefallen.
Diesen Text lesen Sie in der taz.am wochenende vom 15./16. Juni 2013. Darin außerdem: „Der Krisenmigrant: Eric Vázquez Jaenada ist weg aus Spanien. Hauptsache Arbeit! Also nach Deutschland.“ Der Schriftsteller Andreas Altmann über seine Getriebenheit und seinen Lebenshunger. Und: Deutsche Whistleblower kommentieren die Datenspionage des US-Geheimdienstes NSA. Am Kiosk, eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo.
Erst später entdeckt man den Schimmel auf der Marmelade, das völlig vertrocknete Stück Apfel (oder war es mal eine Tomate?) auf dem kleinen Porzellanteller in Indisch Blau. Beim Öffnen des Kühlschranks breitet sich ein modriger Geruch in der winzigen Küche und dem angrenzenden Zimmer aus.
Sein
765 Menschen sterben, statistisch gesehen, in Deutschland jeden Tag. Viele von ihnen haben keine Hinterbliebenen - so wie Heinz Ocvirk.
Als die fremden Männer kommen, ist er schon mehr als drei Monate tot. So lange dauert es mindestens, bis der vom Amtsgericht beauftragte Nachlasspfleger ermittelt hat, dass es keine Erben gibt oder diese unauffindbar sind. Keine Frau, keine Kinder, keine Familie.
Der Nachlasspfleger beauftragt dann eine Firma, die Wohnung zu entrümpeln, alles muss weg. Die Kosten übernimmt der Verstorbene, Entrümpelung und Beerdigung werden aus dem Nachlass gezahlt. Ist nicht genug da, zahlt der Staat den Rest.
Peter Krinner und Tim Joosten stehen in blauer Arbeitskleidung in Heinz Ocvirks Zimmer. Wohnungsentrümpler sind sie, seit zehn Jahren im Geschäft. Sie sind froh, dass Herr Ocvirk nicht zu Hause gestorben ist, sondern im Krankenhaus.
Manchmal dauert es, bis die Leiche gefunden wird, dann verwest sie langsam, Fäulnis und Maden dringen in Matratze oder Sessel. Der Körper der Toten wird vom Bestatter abgeholt, um die Matratze müssen sich Krinner und Joosten kümmern. "Das sind Gerüche, das kann man sich nur schwer vorstellen", sagt Krinner.
Einmal kamen sie in eine Wohnung, in der eine Frau zwei Jahre im Gang lag, bevor sie jemand fand. Der Abdruck ihres Körpers hatte sich ins Parkett gefressen. "Aber wir sind hart im Nehmen", sagt Krinner und lacht.
Ob die Arbeit ihn nicht traurig mache? Im Gegenteil, antwortet Joosten, der Job gebe ihm ein großes Gefühl der Erleichterung und Zufriedenheit. "Ich hänge nicht mehr so an materiellen Dingen. Man kann das alles doch gar nicht gebrauchen. Am Ende bleibt es übrig und keiner will es mehr haben."
Joosten beschäftigt sich gerne mit seinen Kunden, die er persönlich nie kennen gelernt hat. Er nimmt sich Zeit, schaut sich in Ruhe um, will die Sachen noch einmal betrachten, bevor er sie wegwirft.
Alles, was beim Eintreffen der Entrümpler in der Wohnung ist, dürfen sie behalten. Krinner und Joosten verkaufen manchmal Gegenstände an Trödler oder auf dem Flohmarkt, meist Geschirr oder Gemälde. Den Rest, den Müll, entsorgen sie auf dem Wertstoffhof. Bei Herrn Ocvirk ist alles, was vom Leben übrig blieb, Müll. Müll, der ein Leben skizziert.
Haben
Laut Impfpass begann es am 17. Dezember 1942. Kinderfotos gibt es keine, eine Schwarz-weiß-Aufnahme von 1964 zeigt ein Frauenporträt. Ist es Ocvirks Mutter? Seine Schwester?
Auf einem alten Passfoto ist er jung. Gut sieht er aus, mit vollem Haar. Ein Heuerbuch aus den sechziger Jahren zeigt, dass er einige Mal vom Hamburger Hafen aus auf Frachter in See stach. Nicht oft, nach wenigen Einträgen ist wieder Schluss.
Auf anderen Fotos ist Herr Ocvirk irgendwo in den Bergen, irgendwo an einem See. Auf einem Bild posiert er mit Kapitänsmütze, tief aufgeknöpftem Hemd und Zigarre in der Hand. Da muss er in seinen späten Dreißigern gewesen sein, ein stattlicher Mann, ein Don Draper fast wie in "Mad Men".
Es ist ein seltsames Gefühl, in der Wohnung eines Fremden zu stehen, im Leben eines Fremden zu wühlen und doch auch vertraut. Die Gegenstände strahlen Bekanntes aus, stehen so oder ähnlich in der eigenen Wohnung oder der der Eltern, Großeltern, Tanten.
Und wovon hat Ocvirk gelebt? Was hat er gearbeitet? In seiner Wohnung liegen einige Utensilien von BMW, eine Telefonkarte, ein Kugelschreiber. Vielleicht war er dort tätig? Antworten: keine. Im Oktober 2012 hatte er 9.000 Euro auf seinem Konto.
Zu den Interessen von Heinz Ocvirk gibt es mehr Hinweise: Das kleine Bücherregal ist voll Literatur über Astrologie und Esoterik, eines heißt: "Die Esoterik der Astrologie". Ein anderes: "Botschaft der Engel".
Auf einigen Fotos, sie müssen aus den siebziger oder frühen achtziger Jahren sein, lächelt eine blonde Frau. Wer ist sie? Auf einem anderen Foto tanzt er mit einer Brünetten, er lacht verschmitzt. Kinder sind auf keinem der Bilder, auch nichts, was nach Familienfesten aussieht. Dafür hat er einen Dia-Film auf einem Autorennen verschossen, auf einem anderen sind Segelboote bei einer Regatta auf einem See.
Nichtsein
Aus seinen letzten Jahren gibt es keine Fotos. Wann genau Heinz Ocvirk einsam wurde oder ob er es immer schon war, lässt sich schwer sagen. Unter seinem Bett liegen ein paar Erotikkataloge und die Visitenkarte eines Begleitservices. Daneben: ein Zeitungsausriss über Potenzprobleme und mehrere Tuben mit der Aufschrift "Penis Enlargement Cream".
Es klopft an der Tür. Ein Nachbar steckt kurz seinen Kopf in die Wohnung und erzählt, dass Ocvirk öfter Besuch bekam, der auch über Nacht blieb. Mehr möchte er nicht sagen. Das würde das Gästebett erklären, das mit Bettwäsche direkt neben Ocvirks Bett steht. Vielleicht war aber auch alles ganz anders.
Joosten lässt sich von Andeutungen nicht beeindrucken, die Tuben landen im Müll. Dann setzt er sich lässig aufs Gästebett und betrachtet einige Dias, indem er sie gegen das Fenster hält. Oft ist er der Letzte, der sich mit dem Leben eines Verstorbenen beschäftigt. Im Fall von Herrn Ocvirk sind es jetzt Sie.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen
Rechte Gewalt in Görlitz
Mutmaßliche Neonazis greifen linke Aktivist*innen an
Spiegel-Kolumnist über Zukunft
„Langfristig ist doch alles super“
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Slowakischer Regierungschef bei Putin im Kreml
Lohneinbußen für Volkswagen-Manager
Der Witz des VW-Vorstands
Fortschrittsinfluencer über Zuversicht
„Es setzt sich durch, wer die bessere Geschichte hat“