Grünenpolitiker Stefan Gelbhaar: Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht…
Der Skandal um die wohl erfundenen Belästigungsvorwürfe gegen den Grünen Stefan Gelbhaar ist auch ein Skandal für den RBB. Der Fall wird die MeToo-Berichterstattung nachhaltig verändern.
Der RBB musste in den vergangenen Jahren viel lernen in Sachen Krisenkommunikation. Als der Skandal um die Chefsessel-Boni seiner ehemaligen Intendantin Patricia Schlesinger aufflog, versprach der Sender, Transparenz zu schaffen, mit dem, was er kann: Recherche. Auch, um seine Glaubwürdigkeit wiederherzustellen.
Doch nun wird genau diese Glaubwürdigkeit erschüttert. Wochenlang hat der RBB zu angeblichen Belästigungsvorwürfen um den Berliner Grünen-Politiker Stefan Gelbhaar recherchiert. Spätestens seit Freitag ist klar: Die schwerwiegendsten Vorwürfe sind wohl frei erfunden.
Der RBB hat alle Beiträge zu dem Thema gelöscht und Fehler eingeräumt: Journalistische Standards seien nicht vollumfänglich eingehalten worden, schrieb Chefredakteur David Biesinger. Der vermeintliche MeToo-Skandal ist ein RBB-Skandal – und zwar einer, der die MeToo-Berichterstattung nachhaltig verändern kann.
Glaubwürdigkeit erschüttert
Gerade wenn es um Vorwürfe sexueller Belästigung oder Gewalt geht, fehlt es häufig an Beweisen. Unabhängige Zeug:innen gibt es selten, direkte Belege, wie Videos oder Fotos, so gut wie nie. In solchen Fällen greifen Redaktionen zu eidesstattlichen Versicherungen: Darin versichert eine Betroffene, dass eine Situation genau so stattgefunden hat.
Auch wir in der taz nutzen sie, denn sie haben Gewicht: Wer in einer eidesstattlichen Versicherung lügt, macht sich strafbar – nicht vor einer Redaktion, aber dann, wenn diese Versicherung vor einem Gericht vorgelegt wird. Und MeToo-Berichterstattung landet häufig vor Gericht.
Der RBB hatte für seine Recherchen mehrere eidesstattliche Versicherungen vorliegen und sich auf sie verlassen. Das war fatal, denn die zentrale Versicherung scheint gefälscht zu sein. Die Frau, die sie geschrieben haben will, existiert wohl nicht. Der Tagesspiegel berichtet, die Redaktion habe mit der Frau offenbar nur telefoniert. Ein persönliches Treffen hat es demnach nicht gegeben, ihre Identität wurde nicht ausreichend überprüft.
Journalistisch mehr als fragwürdig
Eine eidesstattliche Versicherung zu fälschen, bedarf viel „betrügerischer Absicht“, wie der RBB nun zu seiner Verteidigung vorbringt. Doch eine Geschichte mit so schwerwiegenden Vorwürfen wie die gegen Gelbhaar zu veröffentlichen, ohne die zentrale Informantin überprüft zu haben, ist journalistisch mehr als fragwürdig. Dass sowohl die Redakteur:innen als auch die Redaktion und die Rechtsabteilung des RBB das haben durchgehen lassen, ist unverständlich.
Besonders für Stefan Gelbhaar hat die Geschichte Konsequenzen, die wohl nicht wieder gutzumachen sind: Ob er noch eine Chance auf den Wiedereinzug in den Bundestag hat, ist aktuell unklar.
Doch auch MeToo-Recherchen werden sich dadurch verändern. Man kann das jetzt schon beobachten. Bei Twitter stellt ein renommierter Medienanwalt die Verlässlichkeit von eidesstattlichen Versicherungen prinzipiell infrage. Darin könne man gegenüber der Presse „straflos lügen, dass sich die Balken biegen!“, schreibt er und unterstellt, dass solche Versicherungen wertlos seien.
Gute Recherche braucht Zeit, Geld, Expertise und Handwerk
Es ist das klassische Argument, das Vertreter von Beschuldigten immer vorbringen. Er unterschlägt damit, wie schwer es bei MeToo-Recherchen meistens ist, Betroffene dazu zu kriegen, überhaupt so eine Versicherung zu unterschreiben. Denn damit gibt sich die Frau mit all ihren Vorwürfen und privaten Details gegenüber dem Beschuldigten vollumfänglich zu erkennen. Sie riskiert ein Gerichtsverfahren und jede Menge Anspannung, Ärger, Risiko. Es ist also mitnichten so, dass Informantinnen leichtfertig Versicherungen unterschreiben.
All jenen, die MeToo-Rercherchen prinzipiell ablehnen, kommt die Gelbhaar-Recherche extrem gelegen. Sie kann dazu führen, dass Redaktionen in Zukunft im Zweifel eher von MeToo-Recherchen absehen. Dabei ist es schon heute so, dass in vielen Redaktionen sehr gründlich abgewogen wird, ob MeToo-Vorwürfe überhaupt publik werden dürfen. Ist das öffentliche Interesse groß genug? Wiegt das Recht auf Privatsphäre des Beschuldigten hier nicht schwerer? Sind die Vorwürfe überhaupt schwerwiegend genug?
Wenn eidesstattliche Versicherungen nun durch eine Lüge in Verruf geraten, dann sind viele MeToo-Recherchen kaum noch zu realisieren. Das wäre die schlechteste Konsequenz. Die bessere wäre: Der Fall stärkt MeToo- und heikle Recherchen allgemein, denn er zeigt einmal mehr, wie wichtig journalistische Sorgfalt ist. Nicht nur, weil Informant:innen lügen können – sondern auch, weil Täuschungen durch die technischen Möglichkeiten generell professioneller werden. Diese zu entlarven, braucht Zeit, Geld, Expertise und Handwerk. Wenn dieser Fall dazu führt, das den Redaktionen einmal mehr bewusst zu machen, wäre viel gewonnen.
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