Eurovision Song Contest entschieden: Europe's watching you
Klar gewinnt die Schwedin Loreen den Eurovision Song Contest. Roman Lob schafft den achten Rang. Und Anke Engelke überzeugt mit einem deutlichen Statement.
BAKU taz | Ach, wär' doch Anke Engelke nicht. Sie, die voriges Jahr schon beim Eurovision Song Contest in Düsseldorf auf drei Bühnen moderierte, vergab nicht nur von der Reeperbahn die deutschen Punkte – sondern erteilte den aserbaidschan Gastgebern noch eine supercharmant vorgetragene Mahnung. Und das vor einer Öffentlichkeit, die bei etwa 125 Millionen Zuschauern gelegen haben dürfte. So sagte sie auf Englisch: „Heute Abend konnte niemand für sein eigenes Land abstimmen. Aber es ist gut, eine Wahl haben zu können. Und es ist gut, eine Wahl zu haben. Viel Glück auf Deiner Reise, Aserbaidschan! Europa beobachtet Dich! Und hier sind die Ergebnisse der deutschen Jury…“
Europe's watching you – netter hätte die vor allem aus Deutschland kommende Kritik an Verhaftungen von Demonstranten, an Gewalt gegen die Menschenrechtler kaum verpackt werden können. Angelke teilte ein politisches Credo aus: Ihr wart bestimmt gute Gastgeber für das Ausland, aber wir behalten euch im Blick für die Zukunft, was die Demokratietauglichkeit anbetrifft.
Ob das – bis auf den Kommentator der BBC in Baku, Graham Norton, der auf das Statement der deutsche Punktemitteilerin gleich sympathisierend einging – irgendwer sonst in Europa verstanden hat, kann bezweifelt werden: Der Diskurs um Demonstrationsfreiheit wurde nicht in vielen Ländern Europas mitgetragen.
1. Loreen (Schweden, 372 Punkte)
2. Buranowskije Babuschki (Russland, 259)
3. Zeljko Joksimovic (Serbien, 214)
4. Sabina Babajewa (Aserbaidschan, 150)
5. Rona Nishliu (Albanien, 146)
6. Ott Lepland (Estland, 120)
7. Can Bonomo (Türkei, 112)
8. Roman Lob (Deutschland, 110)
9. Nina Zilli (Italien, 101
10. Pastora Soler (Spanien, 97)
Es wird auch nicht den meisten aufgefallen sein, dass in der Pause zwischen den Liedern und der Punktevergabe, dem Intervall-Act, ein männlicher Angehöriger der Alijew-Präsidentenfamilie ein Lied sang – Pop von der Stange, aber dass er das überhaupt durfte und dieses Geschmäckle obendrein verbreitete: rätselhaft. So oder so: Eine aus dem Tross der ESC-AspirantInnen hat getan, was sie tun wollte. Und sie war die wahre Königin dieser Bakür ESC-Nacht: Loreen aus Schweden.
Sie war aus dem Feld der ESC-Chanteusen und –Entertainer die einzige, die sich in der Woche der Proben auf die Anliegen der Menschenrechts-NGOs eingelassen hatte, deren Büro besuchte, sich deren Anliegen schildern ließ. Aber ihr Lied – „Euphoria“?
Warmes Hintergrundblau
Die noch während der Proben in der Crystal Hall viel zu dunkel wirkende Inszenierung ihres Liedes wurde auf Geheiß der Sängerin zum Finale des 57. Eurovision Song Contest noch in ein warmes Hintergrundblau getaucht – jetzt wirkte Loreen wirklich wie aus einem Märchen, in dem sie zur großen Freude aufbrechen möchte.
Mit „Euphoria“ gelang ihr das nun auch tatsächlich. Loreen, deren Eltern aus Marokko nach Skandinavien auswanderten, siegte haushoch mit 372 Punkten, fast so viele, wie vor drei Jahren der Norweger Alexander Rybak erhielt, mehr als Lena vor zwei Jahren, die ihren Sieg mit 246 Zählern errang.
Diese Siegerin war der eurovisionaere Konsens schlechthin; aus 18 Ländern erhielt sie volle Punktzahl (12), nur Italien übersah Loreen komplett. Auf dem zweiten Platz landeten die Großmütter aus Russland für ihren etwas makaber-trivialen Discosong „Party for Everybody“ (259), Dritter wurde der Serbe Zeljko Joksimovic (214). Auf dem achten Platz landete der deutsche Kandidat Roman Lob, der 110 Punkte zuerkannt bekam.
Überraschend belegte der Brite Engelbert Humperdinck, 76 Jahre, mit „Love Will Set You Free“ nur den vorletzten Platz. Obwohl seinem Lied im Vorfeld des Popfestivals mit das größte kommerzielle Potential attestiert wurde, eignete es sich offenbar nicht für einen Abend unter Wettbewerbs- und Abstimmungsbedingungen.
Die Veranstalter, das aserbaidschanische Fernsehen von Ictimai TV im Auftrag der European Broadcasting Union, die sich die Show von der deutschen TV-Firma Brainpool produzieren ließ, können zufrieden sein. Der EBU zufolge guckten am Samstag 125 Millionen Menschen in 46 Ländern die Show. In Deutschland schalteten im Schnitt 8,29 Millionen Zuschauer ein – 5,5 Millionen weniger als noch im vergangenen Jahr bei der Übertragung aus Düsseldorf.
PR-Desaster für die Alijews
Ob die regierende Familie Alijew ebenfalls zufrieden war, steht dahin: Mutmaßlich hat sie sich lieber einen ESC gewünscht, bei die Berichterstatter neben dem Glamour mehr auf die Kunst der Säkularisierung der Religionen, vor allem des Islam, eingegangen wären, hätte sich beglückt gefühlt, wenn der ESC als Werbeplattform die ökonomischen Fortschritte Aserbaidschans in helles Licht getaucht hätte. Aber da die Regierenden in Baku offenbar keine Ahnung von der negativen Kraft haben, die TV-Bilder voller Gewalt im Westen besitzen, knüppelte man auf die doch recht wenigen Demonstrationen auch noch recht telegen ein. Ein PR-Desaster sondergleichen!
Nebenbei fast ging es für alle Länder ja auch um nationale Befindlichkeiten. Norwegens Tooji mit seiner seltsamen Tanznummer „Stay“ wird sich von Oslo bis Hammerfest anhören müssen, dass er den Reigen der letzten Plätze für Norwegen um einen Zähler erweitert hat: Schon wieder das Allerletzte.
Roman Lob hingegen zeigte sich nach seinem Auftritt erleichtert, ja glücklich. Achter Platz – „das ist mehr, als ich selbst dachte, und so ist das toll fuer mich und mein Land“, sagte er. Ob er in der großen Arena mehr Lampenfieber verspürte als bei seinem Sieg beim nationalen Vorentscheid „Unser Star fuer Baku“ im Februar, beantwortete er verblüffend: „Nein, ruhiger. Viel ruhiger.“ Er habe sich die ganzen Tage in Aserbaidschan in guter, ansteigender Form befunden.
Ob er, wie Lena, ein zweites Mal antreten werde, wollte er nicht beantworten. Wahrscheinlich ist das nicht: Lena Meyer-Landrut trat ja nur deshalb neuerlich als Titelverteidgerin an, weil sie als Siegerin keinen Nimbus einzubüßen hatte.
„Unser Star fuer Baku“-Jurychef Thomas D von den Fantastischen Vier teilte ebenfalls seine Zufriedenheit mit – hinter Schweden, den Siegern, sei Deutschland das beste Land des Westens beim ESC gewesen. Eine ambivalente Rechnung: Beim ESC wird gewöhnlich unterschieden zwischen Ländern, die schon vor dem Fall des Eisernen Vorhangs mitmachten und solchen, die erst nach Auflösung des realsozialistischen TV-Netzwerks Intervision ab 1993 hinzukamen – insofern war nach dieser West/Ost-Rechnung Deutschland drittbestes Land. Auf dem siebten Rang nämlich landete der türkische Performer Can Bonomo. Die Türkei nimmt am ESC seit 1974 teil.
Live-Labor des Event-Fernsehens
Und die Show selbst? Wie immer bemerkenswert. Eine Show, bei der das Fernsehen sich und seine technischen Möglichkeiten wie im Live-Labor ausprobierte. Pyromanische Inszenierungen, Windmaschinen in allen Orkanstärken, Mikrofonegalizer, die niemanden hat schief und schal singen lassen. Eine Kaskade an Sammelsurischem einerseits. Andererseits, weil es diese jedes Jahr gibt, eben auch ein hartes Feld, das nur die Besten nach oben spült. In diesem Fall: Loreen, die mit ihrem „Euphoria“ vermutlich einen feinen Radiohit vor allem im westlichen und nördlichen Europa haben wird.
Für Schweden war es der fünfte Sieg bei einem ESC – angefangen mit Abba 1974, gefolgt von den Herrey’s 1984, Carola 1991 und Charlotte Nilsson 1999. Loreen gehört in Schweden zur Riege der jungen Popstars. Nach Angaben von Christer Björkman, Kopf des schwedischen ESC, war Loreen bereits bei ihrem Sieg in der Vorentscheidung im März in Stockholm der Beweis, dass mit schlageresker Ästhetik kein Blumenpott mehr zu gewinnen sei.
Der nächste ESC wird am 18. Mai 2013 in Stockholm stattfinden, in einer neu erbauten Fußballarena vor denn mutmaßlich 40.000 Hallenzuschauern.
Jan Feddersen, taz-Redakteur, Jahrgang 1957, schreibt als Journalist und Buchautor („Wunder gibt es immer wieder“) seit 1989 über den ESC. Er bloggt auch auf eurovision.de für die ARD.
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