Endlich wieder Kunst: Das Luftholen tut so gut
Tapfer tun wir weiter so, als hielten Frühling und Post-Corona-Ära Einzug. Wir nutzen die Möglichkeiten, die sich bieten. Zumindest für einen Moment.
D ie gute Nachricht: Es hat geregnet. Nicht so sintflutartig und von Orkanböen begleitet wie von den derzeit auf überzogene Spektakelwerte abzielenden Wettervorhersagen versprochen – wenn schon nicht Rock am Ring, dann wenigstens Supersturm –, aber doch so, dass die obersten 30 Zentimeter Boden ein wenig feucht geworden sein dürften. Also los, sprießet, ihr Osterglocken, schöpft neuen Mut, ihr Straßenbäume!
Auch wenn es für Mitte März unterdurchschnittlich kalt ist, wie der Wettermann im Fernsehen sagt. Ob das aus Klimawandelperspektive eine gute Nachricht ist, weiß ich nicht. Vielleicht ist ja schon der Golfstrom zusammengebrochen und unsere Breitengrade steuern in die nächste Eiszeit.
Würde vom Gefühl her passen.
Die gemütliche Wärme transportierenden Gesetzmäßigkeiten kollabieren im Dominoeffekt. Alles stellt sich von den Füßen auf den Kopf: Deutschland ist nicht gut organisiert. Deutschland ist korrupt. Deutschland versagt. Deutschland ist Schlusslicht. Die News derzeit sind wie breit grinsende Pointen auf die westdeutsch-angepunkte Sozialisation à la „Alles Perfekte ist deutsch, iiihbahpfui!“. Wenn aber die Perfektion sich so überhaupt nicht mehr zeigen mag, ist das seltsamerweise: verstörend.
Auch das Ich-will-mein-Leben-zurück-Fenster, das sich durch die Schulöffnung aufgetan hat, schließt sich schon wieder. Vor zehn Tagen erst feierten wir das Ende des Heimschulbetriebs mit einem Drei-Gänge-Menü. Auf das Tiramisu – Schokomilch und Espresso halbe, halbe – schablonierten die Kinder mit Sieb und Kakaopulver „Lockdown ade!“. Das war damals schon leicht verhoben. Mittlerweile gleichen die Fotos, auf denen die Kinder vor ihrem Dessert die Finger zum Victory-V recken, einer Farce.
In der Möglichkeitsmaschine
Aber wir tun weiter tapfer so, als hielten Frühling und Post-Corona-Ära Einzug. Tief atmen wir durch. Nutzen die Möglichkeiten. Das Luftholen tut so gut. Ist so schön.
Am Freitag buche ich für die Kinder und mich ein Zeitfenster bei Johann König in der St.-Agnes-Kirche. Chiharu Shiota hat dort Abertausende langer roter Fäden unter die Decke geknotet, raumfüllend wogt der blutrote Vorhang durch die Nave, darin versteckt ein paar Schiffchen aus dickem Draht, die nach oben, gen Zukunft, durch die Schnursturzflut steuern. In die Fäden gebunden: rote Zettel, die Menschen aus aller Damen Länder unter der Überschrift „I hope …“ mit ihren individuellen Hoffnungen beschriftet haben. Es ist schrecklich kitschig. Einerseits. Andererseits. Setze ich mich an die Wand, lehne am Düttmann’schen Zementwurfputz, lege den Kopf in den Nacken und habe diesen Raum um mich, der weder unsere Wohnung noch mein Einzelzimmerbüro ist. Diesen hohen, weiten, anderen Raum, diesen ou topos, diese Möglichkeitsmaschine.
Das große Kind, noch ganz berauscht vom Training am Vortag, seit dreieinhalb Monaten das erste, schreibt derweil auf seinen Zettel: „Ich hoffe, dass ich eine Fußballerin werde.“ Und wirft das Stück Papier mit glänzenden Augen in die bereitstehende Box.
Sofort weiter mit dem Kunstgenuss. „Into Space“ heißt die aktuelle Ausstellung im Haus am Waldsee. Als ich kurz vor knapp mitbekomme, dass sie wieder geöffnet ist, will ich den Geburtstag doch nicht mit dem Asterix-Puzzle verbringen, wie eigentlich projektiert. Es kommen Freund*innen, wir stehen in weitem Rund im Skulpturengarten, trinken Crémant und essen Schoko-Bananen-Ganache-Torte, sogar die Sonne zeigt sich, und nacheinander dürfen wir in Kleinstgruppen ins Haus, um Objekte aus Glühbirnen, Silikon, Kristallschälchen, verbogenem Acrylglas und Holzlatten zu bestaunen.
Es ist unfassbar toll. Björn Dahlems „Mond“ sieht zwar aus wie das Coronavirus und Berta Fischers in der Wand steckender „Balam“ eigentlich auch. Aber solange sie so bunt leuchten, so harmlos und vor allem so anders sind als unsere vier Wände, sollen sich Kosmos und Virus wegen meiner ähneln.
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