Debatte Nationalismus der CDU/CSU: Das Phantasma der Leitkultur
Die Debatte um nationale Identität in der Union zeugt von einem simplen Kulturverständnis. Gemeinsame Werte lassen sich nicht von oben diktieren.
U nter Führungskräften, beispielsweise in der Wirtschaft, ist es angesagt, Organisationsmitgliedern Leitkulturen zu verordnen. Es werden wohlklingende Leitbilder verabschiedet, in der Hoffnung, das Handeln in der Organisation möge sich an ihnen ausrichten. In Workshops werden die Mitarbeiter aufgefordert, über das von der Organisationsspitze verabschiedete Leitbild zu reflektieren und das Handeln darauf einzustellen.
Das neueste Papier der bayerischen CSU und der sächsischen CDU zu einer „Leit- und Rahmenkultur“ zeigt, dass in Teilen der Politik die Hoffnung herrscht, man könne nicht nur Organisationsmitgliedern ein Leitbild auferlegen, sondern auch Bürger in ihren Handlungen über ein solches Leitbild beeinflussen.
Das Papier ist sicherlich vorrangig der Versuch, mit Formeln wie „liebgewonnener Heimat“ oder „gelebtem Patriotismus“, mit der Lobpreisung der „schwarz-rot-goldenen Fahne“ und der „Hymne mit ihrem Aufruf zu Einigkeit und Recht und Freiheit“ Wähler von der AfD zurückzugewinnen.
Es zeugt aber doch von einem allzu simplen Verständnis davon, wie sich Kulturen ausbilden und verändern. Vielleicht hätte es nicht geschadet, wenn die Verantwortlichen von CDU und CSU zuvor einen Seitenblick auf die vielen gescheiterten Leitbildkampagnen und Kulturprogramme in Unternehmen und Verwaltungen geworfen hätten.
Demokratie heißt Multikulti
Das Besondere an Kulturen ist, dass sie nicht durch Verkündigung gebildet werden, sondern wie von selbst entstehen. Wie Mitarbeiter in Organisationen zusammenarbeiten, wie mit Kunden und wie mit Konflikten umgegangen wird, das pendelt sich im alltäglichen Leben in der Organisation aus und nicht dadurch, dass Organisationsspitzen Leitkulturen verkünden. Und genauso bilden sich auch die von den CSU- und CDU-Politikern geforderte Nutzung von „Deutsch als Sprache“, das „abendländische Wertefundament“, die „Kultur und Tradition“, die „vertrauten Umgangsformen“, der „Stolz“ auf die Geschichte im alltäglichen Zusammenleben aus – und eben nicht durch die Verabschiedung von Leitkulturpapieren.
geboren 1966, ist Professor für Soziologie an der Universität Bielefeld und arbeitet als Organisationsberater für Unternehmen, Ministerien und Verwaltungen.
Forschungen über Organisationskulturen zeigen, dass so etwas wie eine einheitliche Leitkultur als „Kraftquelle“ nur in der Fantasie von Organisationsspitzen existiert. Genauso wie sich in Organisationen sehr unterschiedliche Abteilungs- und Berufsgruppenkulturen ausbilden, gibt es auch in demokratischen Staaten sehr unterschiedliche Kulturen, die häufig nur wenig miteinander zu tun haben. Die Kultur einer katholisch geprägten Kirchengemeinde ist eine andere als die einer autonomen Hausbesetzerszene, die Kultur einer in Deutschland lebenden libanesischen Großfamilie ist eine andere als die Kultur einer rechtsextremen Jugendgang.
Man mag „Multikulti“ gut oder schlecht finden – faktisch kommt es in Demokratien fast zwangsläufig zur Ausbildung sehr unterschiedlicher Kulturen.
Falsche Rezepte
Wenn eine Organisation ihre Leitkultur allzu ernst nimmt und erwartet, dass ihre Mitglieder sich eins zu eins daran halten, tut man gut daran, das Weite zu suchen. Dergleichen findet sich etwa in der Scientology-Kirche, in marxistischen Gruppen oder evangelikalen Gemeinden. In solchen Gruppen ist der wohlformulierte Wertekatolog tatsächlich handlungsleitendes Programm. Die Dianetik von Ron Hubbard, die Marx-Engels-Werke oder die Bibel sind hier nicht grober Orientierungsrahmen, sondern Rezept zur Anleitung einzelner Handlungen, die Tag für Tag genau so durchzuführen sind.
Ob Organisationen oder Staaten sich zu totalitären Systemen entwickeln, hängt weniger von den Inhalten ihrer Leitkulturen ab – ob diese „gut“ (demokratisch, menschlich, tolerant) oder „schlecht“ (undemokratisch, unmenschlich, intolerant) sind –, sondern ob es den Spitzen einer Organisation gelingt, das tägliche Handeln von Menschen einer von ihnen kontrollierten Leitkultur zu unterwerfen.
Aber man braucht sich keine Sorgen zu machen: Das Papier der CDU und CSU wird nicht ansatzweise solche totalitären Effekte haben. In Unternehmen, Verwaltungen und Schulen kann man beobachten, dass die meisten Kulturprogramme weitgehend effektlos verpuffen. Bestenfalls lösen sie in der Phase der Erarbeitung eines Leitkulturpapiers interessante Diskussionen aus, schlimmstenfalls führen sie zu Zynismus bei den Mitarbeitern, die die Diskrepanz zwischen den hübsch klingenden Leitbildern und der von ihnen wahrgenommenen Realität nicht ertragen können.
„Kulturkitt“ aus Leitsätzen
Die Produktion von Leitkulturpapieren ist in vielen Fällen erst einmal ein Hinweis auf grundlegende Probleme derjenigen, die sie verkünden. In Unternehmen kann man beobachten, dass Kulturprogramme immer dann angestoßen werden, wenn die von Beratungsfirmen angestoßenen Strukturreformen zu organisationsinternen Verwerfungen führen.
Die Hoffnung ist dann, die meist ungewollten und nicht antizipierten Nebenfolgen der Reformen durch einen „Kulturkitt“ aus Führungsleitsätzen oder Kooperationsleitlinien abzumildern. Ähnlich ist auch die in CDU und CSU regelmäßig alle zehn Jahre initiierte Diskussion über Leitkultur Ausdruck eines Versagens dabei, Veränderungen in der Gesellschaft durch gut gemachte Gesetze oder kluges Verwaltungshandeln aufzufangen.
Statt Leitkulturen zu verkünden, sollten Organisationsspitzen ihre Energie auf den Bereich dessen verwenden, was sie faktisch beeinflussen können. Unternehmensführungen sollten sich darauf konzentrieren, die formalen Kommunikationswege, Programme und Personaltableaus so auszurichten, dass es nicht zu allzu großen Verwerfungen kommt.
Ebenso wäre viel gewonnen, wenn – Stichwort PKW-Maut – gerade christsoziale Politiker ihre Aufgabe vorrangig darin sehen würden, Gesetze zu verabschieden, die nicht von Verfassungsgerichten wegen handwerklicher Fehler wieder kassiert werden. Wenn ihnen das gelingt, dann können sie sich getrost darauf verlassen, dass Menschen im alltäglichen Zusammenleben und Zusammenarbeiten schon einigermaßen tragfähige Kulturen ausbilden.
40.000 mal Danke!
40.000 Menschen beteiligen sich bei taz zahl ich – weil unabhängiger, kritischer Journalismus in diesen Zeiten gebraucht wird. Weil es die taz braucht. Dafür möchten wir uns herzlich bedanken! Ihre Solidarität sorgt dafür, dass taz.de für alle frei zugänglich bleibt. Denn wir verstehen Journalismus nicht nur als Ware, sondern als öffentliches Gut. Was uns besonders macht? Sie, unsere Leser*innen. Sie wissen: Zahlen muss niemand, aber guter Journalismus hat seinen Preis. Und immer mehr machen mit und entscheiden sich für eine freiwillige Unterstützung der taz! Dieser Schub trägt uns gemeinsam in die Zukunft. Wir suchen auch weiterhin Unterstützung: suchen wir auch weiterhin Ihre Unterstützung. Setzen auch Sie jetzt ein Zeichen für kritischen Journalismus – schon mit 5 Euro im Monat! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Tabubruch der CDU
Einst eine Partei mit Werten
Jugendliche in Deutschland
Rechtssein zum Dazugehören
Jens Bisky über historische Vergleiche
Wie Weimar ist die Gegenwart?
Denkwürdige Sicherheitskonferenz
Europa braucht jetzt Alternativen zu den USA
Krieg und Rüstung
Klingelnde Kassen
„Edgy sein“ im Wahlkampf
Wenn eine Wahl als Tanz am Abgrund verkauft wird