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Debatte Gespaltenes PrekariatTraumschiff und Nagelstudio

Kommentar von Georg Seeßlen

Dem Prekariat fehlt eine gemeinsame, jenseits der Arbeit konstruierte Identität. Was wäre, wenn die Entrechteten sich ihrer Stärke bewusst würden?

Noch unerschlossen: die Macht des Prekariats Foto: dpa

K ein guter Witz: Treffen sich ein Pop-Kritiker und eine Aushilfsverkäuferin beim Bäcker. Sie wechseln gerade mal ein paar Worte über das Wetter. Im Hintergrund belegt eine Frau mit Kopftuch die Brötchen, die sich die arbeitende Bevölkerung zum Coffee-to-Go gönnen soll; sie spricht überhaupt nicht, sondern reagiert stumm auf Anweisungen. Dann geht jeder wieder in seine Welt.

Jeder ist überzeugt, dass die der anderen sehr seltsam sein muss. Dabei wären sie alle drei politisch und ökonomisch dazu durchaus bestimmt, gemeinsam für ihre Rechte, gegen ihre Ausbeutung, gegen die politische Ausblendung ihrer Situation zu kämpfen. Wenn sie nämlich ihr Leben ansehen würden, dann würden sie so viel Gemeinsames erkennen:

Den Blick auf den Kontostand, changierend zwischen zäh erarbeitetem kleinen Plus und rapide anwachsendem Minus, der blitzrasch eine Spirale der Verschuldung auslöst, aus der man so leicht nicht mehr herauskommt. Dass man „schlecht bezahlt“ wird, heißt nicht nur, dass es zu wenig ist, sondern auch, dass es zu unzuverlässig ist, um die Planung über die eigene „Erwerbsbiografie“ zu ermöglichen.

Die Sorge, von Behörden, Banken, Versicherungen, Vermietern als „kredit-“ oder „vertrauenswürdig“ betrachtet zu werden oder eben nicht. Die Angst davor, dass man nächste Woche durch jüngere, billigere und willigere Nachfolger ersetzt wird. Die Abhängigkeit von der „Bedarfsgemeinschaft“ (so heißt im Bürokratensprech die Familie), in der jeder Ausfall eine Katastrophe bedeutet und in der immer die einen die anderen „mitschleppen“, die sich ihrerseits dafür schämen. Abhängigkeit aber auch von der Firma, dem Projekt, die selbst auf Wolkensäulen stehen und auf jede Forderung mit dem Hinweis auf den eigenen Ruin und damit natürlich auch den Verlust der Arbeitsplätze von KollegInnen reagieren.

Man ist da, wenn man gebraucht wird, und man ist weg, wenn man nicht mehr gebraucht wird. Man ist in Wahrheit: niemand.

Mit uns kann man alles machen

Die Erfahrung vollkommener Gleichgültigkeit seitens der Politik, der Regierung und der Parteien, denen unser Leben scheißegal ist, solange wir uns nur brav verhalten und die Arbeitslosenstatistik nicht belasten. Die Rechtlosigkeit, die Organisationslosigkeit, die Stimmlosigkeit. Mit uns kann man so ziemlich alles machen.

Die vagen Hoffnungen, die uns an manchen Tagen aufrechterhalten, darauf, dass vielleicht doch noch der große Auftrag kommt, ein Lotteriegewinn oder ein Traumjob. Denn unser Leben ist nicht einfach ein langer, gerader Weg nach unten, sondern eine bizarre Achterbahn, die immer wieder Ups und Downs hat.

So sehr wir einander durch die ökonomische Situation ähneln, so unterschiedlich sind unsere kulturellen Schnittstellen

Die kleine Gier danach, etwas vom Leben zu haben, etwas Gedrängtes und Spektakuläres; da ist es schnell wieder weg, das Geld, das so mühselig erworben wurde, und daneben steht der hämische (noch!) lohnarbeitende Bürger in fester Anstellung, der bemerkt: Die haben offenbar immer noch zu viel Geld! Sparen jedenfalls macht für uns kaum einen Sinn. Deswegen muss man sich beeilen, etwas Großes zu erleben. Aber was ist groß? Wer anders als unsere Medien kann es uns sagen? Was bleibt zwischen Traumschiff und Nagelstudio?

Der Popkritiker, die Aushilfsverkäuferin und die Küchenhilfe haben davon gewiss sehr unterschiedliche Vorstellungen. Denn so sehr sie einander durch ihre ökonomische Situation ähnlich sind und so sehr sie unter derselben Ignoranz der politischen und gesellschaftlichen Institutionen leiden (einschließlich der „linken“), so sehr sie also Elemente derselben ökonomischen Klasse sind, so unterschiedlich, so weltenfern voneinander sind ihre kulturellen Schnittstellen, ist die jenseits der Arbeit konstruierte Identität.

Das Klischee ist ganz einfach. Der Popkritiker schwadroniert über The XX, die Aushilfsverkäuferin hört Helene Fischer, und die Frau mit dem Kopftuch nur Nostalgisches aus der Heimat. Aber vielleicht ist ja alles ganz anders, und die Aushilfsverkäuferin spielt in einer New-Wave-of-New-Wave-Band, die Frau mit Kopftuch übersetzt aktuelle Lyrik und unser Popkritiker hängt heillos in einer 80er-Jahre-Schleife fest. Als Wahrheit bleibt nur: Wir wissen zu wenig voneinander. Und die zweite Wahrheit ist: Das ist kein Zufall, dass wir so leicht zu keiner gemeinsamen Sprache kommen.

Eine Klasse ohne Bewusstsein

Das Prekariat ist die Sphäre der entwerteten Arbeit und der entrechteten Menschen. Es ist eine Klasse, die keine Partei und keine Organisation, kein Projekt und kein Bewusstsein hat. Es ist die Klasse der nachhaltig Vereinzelten. Es gibt das akademisch-kulturelle Prekariat, es gibt das Dienstleistungsprekariat, es gibt das digital-„kreative“ Prekariat, das „Kognitariat“, es gibt das industrielle und postindustrielle Prekariat, und nicht zuletzt gibt es ein landwirtschaftliches Prekariat (das indes in Mitteleuropa besonders gern der Migration und den „Illegalen“ überlassen wird: der hier gnadenlos Ausgebeutete muss anderswo noch eine Familie miternähren).

Wir sind alle unterbezahlt, unsicher beschäftigt, vom Überlebenskampf ermattet und zugleich gierig nach Spektakel und Sensation; aber zur selben Zeit leben wir sowohl in der Arbeit als auch jenseits von ihr in solch unterschiedlichen kulturellen, körperlichen und ästhetischen Umständen, dass uns der Gedanke von Solidarität und Gemeinschaft gar nicht kommt.

Was aber wäre, wenn sich das Prekariat, statt sich in seinen Segmenten gegenseitig zu bekämpfen, zu verachten und zu misstrauen (eines der Pfunde, mit denen der Rechtspopulismus wuchern kann), als Klasse zu betrachten begänne, als eine, die mit dem Sklavenstatus so viel wie mit dem klassischen Proletariat und einiges mit der analogen wie digitalen Bohème zu tun hat? Wenn die Klasse, die nicht eine ist, zu einem gemeinsamen Bewusstsein, einer gemeinsamen Organisation, einem gemeinsamen Stolz finden würde? Was wäre, wenn das Prekariat sich seiner Stärke bewusst und sich als politisches Subjekt erkennen würde?

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39 Kommentare

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  • Teil II.

     

    Der Dank der deutschen Bourgeoisie an die SPD und DGB-"Sozialpartner": Deutsche Arbeiterklasse ohne Klassenbewusstsein!

    {...}

     

    In Westdeutschland landeten Millionen im Hartz-IV-Strafvollzug und als Aufstocker im Niedriglohnsektor, weitere Millionen in prekären Arbeits-, Lohn- und Ausbeutungsverhältnissen, Millionen Eltern mit ihren Kindern in dauerhafter Armut, weitere Millionen RentnerInnen in Altersarmut. —

     

    Zugleich erreichten die persönlich leistungslosen Jahresdividenden der Hauptaktionäre der DAX-Konzerne einen beispiellosen Spitzenwert. So wie beispielsweise beim BMW- und DAX-Weltkonzern, nur für die Hauptaktionäre der Quandtfamilie im März 2017 rund 1,03 Milliarden Euro (abzüglich Steuer?).

     

    Bereits mit der sich abzeichnenden Implosion des Realsozialismus, in den Jahren und Jahrzehnten vor dem sich abzeichnenden Ende, verschwand auch die ideologische und gesellschaftspolitische Wirkungsmacht der (vorgeblich) sozialistischen und kommunistischen, der revisionistischen pseudomarxistischen Parteien im Weltmaßstab. Die in ihrer Frühgeschichte sozialrevolutionären Parteien lösten sich zunehmend auf und wechselten die gesellschaftspolitische Seite, an die Seite der Kapitalisten und nationalen Korruption und Vetternwirtschaft. In ihrer Entwicklungsgeschichte hatten sie fast ausnahmslos wissenschaftlich-marxistische und sozialrevolutionäre Positionen über Bord geworfen.

     

    Auch die westdeutschen Kapitalisten und deren ideologische, ökonomische und gesellschaftspolitische Administration, so auch in Zusammenarbeit mit ihren SPD-Kapitaldemokratien und DGB-Sozialpartnern, sie hatten nicht nur die westdeutsche Arbeiterklasse politisch integriert, sondern auch das Selbstbewusstsein der weiblichen und männlichen -werktätigen- Ostdeutschen nachhaltig liquidiert und kapitalkonform integriert.

     

    R.S.: Gewerkschafter der Basis, seit 1969.

  • Nochmals.

     

    Dank SPD und DGB-Führung: Deutschlands Arbeiterklasse ohne Klassenbewusstsein!

     

    »Das Prekariat ist die Sphäre der entwerteten Arbeit und der entrechteten Menschen. Es ist eine Klasse, die keine Partei und keine Organisation, kein Projekt und kein Bewusstsein hat. Es ist die Klasse der nachhaltig Vereinzelten. Es gibt das akademisch-kulturelle Prekariat, es gibt das Dienstleistungsprekariat, es gibt das digital-„kreative“ Prekariat, das „Kognitariat“, es gibt das industrielle und postindustrielle Prekariat, und nicht zuletzt gibt es ein landwirtschaftliches Prekariat (das indes in Mitteleuropa besonders gern der Migration und den „Illegalen“ überlassen wird: der hier gnadenlos Ausgebeutete muss anderswo noch eine Familie miternähren).«

     

    Mit der Implosion des Realsozialismus, vor allem der dem mittel- und osteuropäischen Proletariat ungenügenden Konsumgesellschaften, so analog auch in Asien, war es für die westlichen Kapitalisten nicht mehr notwendig, über die materielle Befriedigung der Grundbedürfnisse hinaus, größere Teile der wertschöpfenden Erwerbsbevölkerungen an der von ihnen erarbeiteten und steigenden Wert- und Mehrwertschöpfung nachhaltig zu beteiligen.

     

    Die westlichen Kapitalisten konnten sich auf ihre Stammbelegschaften und Arbeiteraristokratien, aus ihre gehobene Beamtenschaft und Administration, bei deren Beteiligung an der steigenden Wert- und Mehrwertschöpfung beschränken.

     

    Die sozialpolitische Aufrechterhaltung des westlichen Standards, als reales und mediales TV-Schaufenster für Ostdeutschland und Osteuropa, wurde für die mittel- und osteuropäische Arbeiterklasse nicht mehr benötigt. In Folge konnte man für Millionen Arbeitskräfte in Westdeutschland und Westeuropa, große Teile der sozialstaatlichen Leistungen und Arbeitslöhne nachhaltig reduzieren. Dabei auch die Umverteilung, von unten nach oben, beschleunigen.

     

    Fortsetzung: Teil II. von II.

  • „Es lässt sich ohnehin nichts ändern.“ Erzeugung eines Gefühls von Kontrollverlust Individuelles und kollektives gesellschaftliches Handeln wird als aussichtslos empfunden. Das ist sicherlich ein Gefühl, das uns alle zu irgendwelchen Zeiten immer wieder beschleicht. Wir fühlen uns ohnmächtig und machtlos. Dieses Gefühl ist mit vielen Mühen und unter liebevoller Beteiligung von Sozialwissenschaften und Psychologie bewusst induziert. Das ist ein ganz wichtiger Punkt: Man muss dieses Gefühl der Ohnmacht, „es kann sowieso nichts geändert werden“, in den Individuen induzieren. Und dazu gehört ein ganz wichtiges Mittel: „Die Mitte“. Es kann keine Alternativen mehr geben. Jemand, der weder rechts noch links ist, kann sich eigentlich nur damit noch

    retten, dass er sagt: „Naja, ich bin völlig apathisch!“

    • @patty:

      Sehr richtig! "Es gibt keine Alternative" ist eine Herrschaftsstrategie. Der Wechsel von Vereinzelung, Beschämung und dem homöopathischen Hervorkramen eines "Wir", daß Exportweltmeister ist oder "es schafft" ist eine zweite. Der Topos "der Wirtschaft", die ähnlich greifbar ist, wie das Wetter oder das Schicksal ist eine Dritte. Insgesamt das Vortäuschen von Komplexität, wo keine ist. It's the Herrschaft, stupid.

      • @El-ahrairah:

        ** - ): Die modifizierte Weiterentwicklung der "Volksgemeinschaft" von Kapitalisten und Arbeiterklasse, nach 1945: die SPD-DGB "Sozialpartnerschaft", - zwischen der Putz- und Arbeitskraft und Quandts Milliardärsfamile.

      • @El-ahrairah:

        Ihre Worte gefallen mir sehr. Auch ich finde mich darin wieder, das Machtlose, Depressive was einen befällt, wenn die Umstände doch eigentlich Kampf erfordern. Viele Leute lenken sich einfach ab, durch Reisen, Konsum, Drogen. Es ist sehr schwer, Gleichgesinnte zu treffen und Verbindungen zu knüpfen. In Gesprächen geht es um die 3 großen R, wie man in den USA sagt: "Recipies, Ressorts, Renovations".

        • @Energiefuchs:

          Aber was die Gespräche angeht haben Sie Recht. Besonders wenns um die 30 vom Studenten- ins Angestelltenmillieu geht. Alles Gesagte wird zum Statusturnier. Autsch.

        • @Energiefuchs:

          Herrschaft ohne Legitimität ist ein Koloss auf tönernen Füßen.

  • Also, ich bin Teil dieses Prekariats und ich bestehe darauf, lieber Autor, dass solche Biogemüserebellen wie sie es einer sind ganz klar Abstand zu uns halten.

     

    Ich verstehe, dass sie sich gerne einen rebellischen Anstrich geben möchten indem sie uns zu vertreten behaupten, aber ihr habt den Schaden angerichtet und ihr behandelt uns mit endlosem Paternalismus und Hochnäsigkeit.

     

    Deswegen: Nö, ihr gehört nicht zu unserer Klasse

    • @Sorsha:

      Nicht jeder Alt-68er ist in den weichen Redakteurssessel gefallen. Und wenn das kulturelle Kapital aus den 70ern stammt, ist der Tauschkurs ins Finanzielle auch nicht mehr so dolle.

  • Gute Frage: Was wäre, wenn...

     

    Wenn zur Abwechslung mal wieder eine Utopie am Horizont auftauchen würde, die nicht zwingend im Gulag enden muss, weil sie nicht auf einer Gewaltherrschaft gründet, sondern auf echter Toleranz und vernünftigen Entscheidungen verantwortungsbewusster Menschen, würde es sich vielleicht tatsächlich – erstmals oder auch wieder – lohnen, miteinander zu reden. An allen Unterschieden und Vorurteilen vorbei. Auch wenn es manchmal mühsam, mitunter sogar frustrierend ist und man genau weiß, dass Missverständnisse nicht ausbleiben können. Und zwar nicht nur über Kaffeepreise, den Musikgeschmack oder den Hass auf einen gemeinsamen Gegner, sei es nun „der Ausländer“ oder „der Banker“.

     

    Nein, Georg Seesslen (oder Seeßlen?) beantworte die Frage nach dem, was sein könnte, nicht. Das ist ja auch nicht seine Aufgabe. Der Mann ist, wenn man Wikipedia glaubt, nicht Revolutionsführer, sondern „Autor, Feuilletonist, Cineast sowie Film- und Kulturkritiker“. Außerdem ist er Baujahr 1948. Was allerdings in diesem Fall ein echter Vorteil sein könnte. Mag sein, der Mann kann sich erinnern. An eine Zeit, in der noch nicht allen alles egal war, außer der nächsten Netflix-Serie.

     

    Wofür es sich lohnt, mit Menschen zu kommunizieren, mit denen man mit größter Wahrscheinlichkeit nie etwas anderes teilen wird als die gemeinsame Zukunft, muss jeder und jede für sich selbst entscheiden, denke ich. Wir hatten genügend Diktatoren, die uns diese Denkarbeit, diese Entscheidung abnehmen wollten. Das hat noch nie geklappt. Ich bin Georg Seesslen (oder Seeßlen?) jedenfalls dankbar, dass er es nicht auch versucht. Das wäre, denke ich, nämlich schon wieder der Anfang eines Endes.

  • 4. „Katharsis“: Wenn die politische Linke nicht endlich aufwacht und die prekär Betroffenen sich nicht endlich hörbar in die politische Gestaltung einbringen, werden wir in nicht mehr allzu langer Zeit wieder die braunen Horden (nicht nur) durch Deutschland marschieren sehen. Wer Demokratie will, muss dafür kraftvoll eintreten, auch wenn dies bedeutet, dass man die verantwortlichen Vertreter der politischen Linken diesbezüglich wiederholt kräftig in den Ar… tritt! Und die prekär Betroffenen müssen dann auch – zum Wohle unserer Demokratie – links wählen!

  • Die Scham ist so etwas, die anstelle des geldes tritt. In Deutschland spricht man nicht so gern darüber.

  • Danke! Ein wirklich gelungener Kommentar/Artikel, dem ich (seit langem) inhaltlich zustimme.

    1. Wir scheinen in einer Welt zu leben, in welcher altes „Schichtbewusstsein“ entfallen, neues aber noch nicht aufgebaut wurde. Zudem will ein faktisch prekärer Selbständiger sich nicht eingestehen, dass seine/ihre Situation mit der eines Lohnsklaven (m/w) im wesentlichen deckungsgleich ist. Die subtilen Strippen der neoliberalen Meinungsbildung in unserer Gesellschaft verhindern die Einsicht des Selbständigen (m/w) in solche Tatsachen.

    2. Auch aus vorstehendem Grunde wählen die neoliberal Getäuschten daher weiter unbeirrt Mutti & Co, und marschieren in bravem Gleichklang auf die kollektive Altersarmut zu. Doch dann, meine verehrten Lemminge, wird es zu spät sein!!!

    3. Oder, die prekär Betroffenen wählen – aus (falscher) innerer Überzeugung – gar nicht mehr, da keine politische Partei die Interessen der prekär Betroffenen auf ihrer Agenda hat; was ja z.T. auch stimmt: CDU/CSU/FDP/AfD (brauchen wir nicht gesondert drüber reden; einzig betreffend der AfD fällt auf, dass deren Wähler besonders „uninformiert“ sind, da sie u.a. aus der Annahme heraus AfD wählen, weil die AfD sich auch um ihre sozialen Belange kümmern würde, obwohl die AfD für das krasse Gegenteil eintritt).

    Und die SPD: sie vertritt angeblich die „Mitte“ unserer Gesellschaft, wirft zugleich ihre alten Stammwähler über Bord und schafft sich mit großem Geschick selbst ab.

    Und die Linke: Der aktuelle Richtungsstreit zwischen Vorstand und Wagenknecht belegt, dass die Ideologie über dem Wille zur spürbaren Hilfe der prekär Betroffenen steht; frei nach dem Motto: wenn wir nicht „allen“ helfen können, dann helfen wir niemandem.

    4. „Katharsis“: Wenn die politische Linke nicht endlich aufwacht und die prekär Betroffenen sich nicht endlich hörbar in die politische Gestaltung einbringen, werden wir in nicht mehr allzu langer Zeit wieder die braunen Horden (nicht nur) durch D marschieren sehen. Wer Demokratie will... .

  • Die Identität nennt sich Arbeiterklasse oder Proletariat.

     

    Solange die priviligierte Linke das Proletariat als minderwertig betrachtet und anderen Identitäten - wie sexuelle Orientierung oder Religöse Überzeugung - für wichtiger hält als ökonomische Fragen fährt das Traumschiff nach nirgendwo.

    • @Alreech:

      Es ist nicht mehr die ökonomische Frage, die uns zusammenhalten sollte, sondern langsam aber sicher eine ökologische.

    • @Alreech:

      Dankeschön. Vor kurzem wurde uns hier noch erzählt das ein Bezug aufs gemeine Volk und eine Rücksichtnahme oder gar ein Schulterschluss mit dieser Gruppe ungebührlich, reaktionär oder gar antisemitisch wäre.

      Was nun taz? Power to the poeple oder Umsetzung der eigenen liberalen Ideologie von oben?

  • Toller Titel, schöner Ansatz drei Bilder von prekrär sich durchs Leben Kämpfenden zusammenzubringen. Unpassend und den Haken finde ich dann aber in der immer wieder hervorgekehrte Idee des gemeinsamen Aufstehen. Ausstehen gegen wen, gegen die Bundeskanzlerin, gegen die Börse, gegen die Vermieter, den Supermarkt, die städtischen Stadtwerke. naja, dass ist leider zu häufig die Fehlannahme (meiner Meinung nach).

    Trotzdem gibt der Artikel eine Antwort was helfen kann: "Die Aushilfsverkäuferin spielt in einer New-Wave-of-New-Wave-Band usw." Oder ist das schon zuviel Max Giesinger Naivität!?

    Ein weiterer Aspekt steckt in der Überschrift "Traumschiff und Nagelstudio". Für viele von uns, kommt beides nicht in Frage. Das Leben ist dafür zu wichtig. Den meisten in der Gesellschaft werden aber genau diese Traumvorstellungen immer erfolgreich vorgeflunkert.

    Die größte Revolution ist nicht das Aufstehen gegen etwas, sondern das Selbermachen und andere Mitzureißen!

  • "Aber vielleicht ist ja alles ganz anders, und die Aushilfsverkäuferin spielt in einer New-Wave-of-New-Wave-Band, die Frau mit Kopftuch übersetzt aktuelle Lyrik und unser Popkritiker hängt heillos in einer 80er-Jahre-Schleife fest."

     

    Bis dahin (und auch danach) fand ich's gar nicht schlecht. Leider findet der Beitrag zu keinem richtigen Abschluss oder Schluss.

     

    Letztendlich geht es ums Geld. Seit zig Jahren, was Piketty neulich eindrucksvoll (wieder!) bewiesen hatte werden 10% der Bevölkerung von dem Markt bedient, 40% halten ihren Anteil (bzw. steigern ihn im Schritt des BIPs), 50% kacken ab:

     

    //http://www.dgb.de/++co++77a49a96-e589-11e7-85ab-52540088cada/scaled/size/661

     

    Der Arbeitsmarkt in dieser Form versagt als einigermaßen gerechter Allokationsmechanismus. Die Identität, mangels anderer Gemeinsamkeiten, sollte sich auf diese Aspekte beziehen.

  • 8G
    82236 (Profil gelöscht)

    Im Iran wird uns gerade vorgemacht, wie völlig unterschiedliche Menschen über soziale Netzwzerke zu gemeinsamen Handel kommen.

    Noch eins, die beste Antwort der herrschenden Klasse das Prekriat und die Vereinzelung des Menschen als Dauerzustand einzurichten, wäre die Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens ohne jegliche Gegenleistung. Dann wird eine neue Klasse geschaffen, die der Sozialzombies.

    • @82236 (Profil gelöscht):

      Ja, aber dann müssen die abgelenkt werden in der Kombination Gladiatorenspiele.

      Die Gladiatoren gibts dann aber nicht, da die auch das Grundeinkommen kriegen....

      Idee: Geflüchtete zu Gladiatoren machen und der Überlebende darf dann bleiben; ohne Familiennachzug. Familie darf dann kommen, wenn er noch mal in den Ring steigt.

    • @82236 (Profil gelöscht):

      Hungerunruhen haben noch in keine progressive Politik geführt

  • ist der artikel vor dem hintergrund des 200jährigen geburtstags in wenigen wochen von karl marx zu verstehen ?

     

    oder ist dies ein blick durch die linse des mikroskopes auf unsere leistungsgesellschaft ?

     

    ich bin handwerker.

    und ich kann sagen:

    auftragslage gut, einkommen zufrieden, zwei stücke butter im kühlschrank ... usw.

     

    keine klagen !

     

    leute, lernt werkzeug zu benutzen und nicht nur die fingerchen auf der tastatura !

  • Mit Schwach gegen Schwach ausspielen wurden ganz Kontinente erobert. Sklaven verschifft und überwacht und ganze Volkswirtschaften begründet.

     

    Und Herr Seesslen will das jetzt sozusagen in DE im Jahre 2018 negieren, also umdrehen!?

     

    Aus der Zeit gefallen? Die Relation nicht erkannt unsere Zeit heute zu Zeiten als es Revolutionen gab?

     

    Ach übgigens: Coffee to go mit Blödchen für 6Markfuffzig. Der sich das leisten kann, der will sicher keine Revolution.

  • 3G
    39167 (Profil gelöscht)

    Sehr guter Beitrag, Herr Seesslen!

    Wäre an der Zeit, Ihre Ideen umzusetzen!

  • Es begehrt ja keiner auf. Und angeblich haben wir eine Rekordbeschäftigung. Was hindert denn das arme Prekariat mal sein Glück in der Provinz zu versuchen? Die Gier nach Spektakel? Was will denn das Prekariat? Geld für den Konsum? Eine Eigentumswohnung? Und wie will sich das Prekariat denn kennenlernen? Sie sprechen ja nicht einmal die selbe Sprache und arrogant untereinander sind alle.

  • Der Weg ist keine Straßenparty und kein geplünderter Supermarkt. Der Weg ist die Veränderung der gesetzlichen Grundlage von Arbeitsteilung und Wertproduktion. Dafür braucht es nicht die Illusion einer kollektiven Identität, sondern rational formulierbare Zukunftsziele.

    • @El-ahrairah:

      Und die Verteilung der Früchte der Arbeit, die Verteilung der letzten Ressourcen. Bisher heißt das Zukunftsnarrativ: "es wird immer besser". Wieviel besser denn? Und für wen? Was bedeutet besser?

      • @Energiefuchs:

        Nach uns werden bessere Menschen kommen durch unseren Anteil?

    • @El-ahrairah:

      Welches "rational formulierbare Zukunftsziel" brauchen Sie denn noch? Wir haben doch schon eins!

       

      Es ist das wichtigste überhaupt, das wichtigste, das man sich vorstellen kann: Wir müssen unser aller Existenz auf diesem Planeten möglichst nachhaltig und möglichst lebenswert gestalten. Dafür brauche ich weder die intellektuellen Höhenflüge, noch den Mode- oder den Musikgeschmack und auch nicht die eventuelle Vorlieben meiner Nachbarn für geistige Getränke oder ausgefallene Speisen zu teilen. Es genügt, wenn ich weiß, dass wir entweder beide eine Zukunft haben, die uns lebenswert erscheint, oder keiner von uns.

      • @mowgli:

        Sehr richtig!

    • @El-ahrairah:

      .... die rational formulierten Zukunftsziele sind die Grundlage für eine kollektive Identität und diese sind eben doch Voraussetzung für eine große Veränderung. Das wissen die Mächtigen und tun alles, damit es nicht zu der Einigung der Massen kommt. Die Gesellschaft wird an jeder Ecke gespalten. Da der Linke, da der Rechte, da der Gläubige, da der Atheist. Ohne das Wissen vom anderen und dem Potenzial der Masse bleibt alles wie es ist. Bildung und Wissen bzw. die Fähigkeit mit Informationen können, von denen wir ja überflutet werden, umgehen zu können, könnten die Welt verändern. Aber genau hapert es eben und dabei belässt man es genau deshalb -> Bildungspolitik!

      • @Arthur Dent:

        Was glauben Sie, warum zur Zeit so viele Identitätsgrüppchen aus dem Kraut schießen, von denen vorher noch nie einer gehört hat? Oder das neue Interesse des Hipsterbürgertums für rassistische Farbenlehre. "Weißsein" etc. Primitiv aber es funktioniert.

  • Eine Revolution werd es nicht geben ( können ); denn die vom Prekariat profitieren,haben in den letzten Jahren, dank “ nützlicher Idioten“die Gesetze derart verschärfen können, dass eine Revution im Keim erstickt würde!

    • @Jakob Cohen:

      Das käme immer noch auf den Versuch an. Aber richtig ist, dass der Erste Schritt zur Revolution (oder zumindestens zu einer sozialen Revolution) die Überwindung der stetig sich verstärkenden Vereinzelung ist. Alles weitere müsste die Bewegung, die alle Zustände beenden will, die aus dem Menschen ein geknechtetes, ein erniedrigtes Wesen machen, im voranschreiten des Kampfes sehen. Zuerst bräuchte es dazu aber überhaupt erstmal eben jene Bewegung und die könnte sich aus dem Prekariat speisen, so sich dieses als Klasse für sich erkennt und organisiert. Das allerdings liegt in weiter Ferne fürchte ich.

  • Ist schon eine düstere Sichtweise "unseres" Lebens, aber wahr. Schön wäre es, die Revolution! Dazu alle zu bewegen. Aber wie anstellen? Bitte um Vorschläge, bin gerne dabei :)

    • @joaquim:

      Mit den Leuten sprechen, weg von der überheblichen Attitüde gegenüber der einfachen Bevölkerung, die wenigen Freiräume ausnutzen die Gesellschaft noch anbietet und für sich vereinnahmen. Nicht immer wegen jedem Quatsch den Krawall ausrufen sondern erst wenn es auch eine Rückendeckung dafür gibt.

      Also weg von all dem was die Linke Szene gerade ausmacht

    • 9G
      95692 (Profil gelöscht)
      @joaquim:

      Direkte Aktion :-)

    • 7G
      75064 (Profil gelöscht)
      @joaquim:

      Ich glaube nicht, dass eine Revolution erstrebenswert ist - es gibt da immer so schrecklich viele Tote.Wenn sich die Menschen wenigstens mal darauf besinnen würden Parteien zu wählen, die wenigstens behaupte Ihre Interessen zu vertreten, wäre schon viel gewonnen. Stattdessen lassen sich viele einreden, die Flüchtlinge sind schuld, die Linken verachten sie und die Wirtschaft wird alles richten - Schade eigentlich :-)