Bilanz nach fünf Jahren Gentrifizierung: Schillerkiez ist überall
Vor fünf Jahren wurde der Tempelhofer Flughafen zum Park. Für die Bewohner des angrenzenden Viertels begann die Zeit von Aufwertung und Verdrängung. Ein Resümee.
Die Genezarethkirche war mit 350 Besuchern rappelvoll, die Stimmung aufgeheizt. Es ging um die Zukunft des Tempelhofer Feldes, und damit auch um die des angrenzenden Schillerkiezes in Neukölln. Die Senatsbaudirektorin stellte an diesem Dezemberabend 2010 ihre Wohnungsbaupläne vor. Sie stießen auf – gelinde gesagt – wenig Gegenliebe. „Hier entsteht gerade eine Bewegung, die bald in keine Kirche mehr passen wird“, rief eine Aktivistin unter lautem Jubel.
Fast fünf Jahre später zeigt sich: Sie hat nicht recht behalten. Der Schillerkiez, über dessen Veränderungen die taz seit Öffnung des Tempelhofer Feldes im Mai 2010 regelmäßig berichtet, ist kein Hort des Widerstands gegen die Gentrifizierung, die Verdrängung von Mietern geworden. Auch hier steigen die Mieten rapide, auch hier verlassen Menschen nicht freiwillig ihre Wohnungen, in denen sie teils jahrzehntelang gewohnt haben, auch hier schließen Eckkneipen, Bordelle und skurrile Läden, um Platz zu machen für Bioessen, Galerien, Büros.
Die Frau auf der Versammlung in der Genezarethkirche lag aber auch nicht völlig falsch, zumindest was die Breite der Bewegung gegen Wohnungen auf dem Feld angeht: Denn vor einem Jahr, am 25. Mai, kippte eine Mehrheit der Berliner überraschend und noch dazu überragend deutlich die Baupläne des damals zuständigen Senators, Michael Müller (SPD). Inzwischen ist Müller Regierender Bürgermeister, und er versucht, jede verfügbare Fläche in der Stadt mit Wohnungen zuzubauen. Und selbst viele Bewohner des Schillerkiezes sind sich im Nachhinein nicht sicher, ob Wohnungen auf dem Feld nicht auch die Lage auf dem Wohnungsmarkt entspannt hätte. Denn die Stadt wächst rapide, und seit einigen Jahren schneller als erwartet.
Das sieht man auch am Schillerkiez. Hier, zwischen Flughafenstraße im Norden und Siegfriedstraße im Süden, dem Tempelhofer Feld im Westen und der Hermannstraße im Osten, waren in den vergangenen fünf Jahren die sogenannten Pioniere am Werk: Studierende und Menschen mit kleinen Bedürfnissen und geringem Einkommen zogen reihenweise ins Viertel. Die Zahl der 18- bis 35-Jährigen stieg zwischen Ende 2010 und Ende 2014 um mehr als 15 Prozent.
Anders allerdings als die Zuzügler, die um das Jahr 2000 Prenzlauer Berg und Mitte bevölkerten, geben sie vergleichsweise viel Geld für ihre Unterkunft aus. Denn Gentrifizierung gab es zwar auch schon vor 20 Jahren; damals prangten Slogans wie „Wohnraum statt Schönbohm“ – gemeint war der CDU-Hardliner und -Innensenator – an den Hauswänden. Doch meist stiegen die Mietpreise nur nach einer Komplettsanierung deutlich an. Das ist heute anders: Bei Neuvermietung wird – oft ohne, dass etwas saniert wurde – kräftig aufgeschlagen; zudem konkurrieren Wohnungsinteressenten bei der Suche nach einem Zimmer, einer Wohnung, einem Atelier mit jenen oft etwas gesetzteren Zuzüglern, die statt zu mieten lieber gleich kaufen. Quadratmeterpreise von 3.500 Euro und damit doppelt so viel wie noch vor fünf Jahren sind dabei die Regel – und sie werden auch bezahlt. Oftmals für Buden, die vor fünf Jahren kaum ein Makler überhaupt angeboten hätte.
Die große Welle
Diese Entwicklung hätte vor fünf Jahren kaum jemand für möglich gehalten. Damals regierte noch Rot-Rot, es galt das SPD-Mantra der Stadtentwicklungssenatorin Ingeborg Junge-Reyer vom Überangebot an verfügbarem Wohnraum. Auch im Kiez gab man sich verhalten optimistisch: „Die ganz große Welle geht hoffentlich an uns vorbei“, sagte eine Anwohnerin im Mai 2010 der taz.
Doch inzwischen ist Schillerkiez fast überall, und nicht nur in der Innenstadt: In vielen gewachsenen Vierteln mit ihren lokalen Netzwerken aus Kneipen, Kirchen, (politischen) Lokalmatadoren und alteingesessenen Händlern werden Geschichten erzählt vom Ende der Mieterstadt Berlin: Rund um die Turmstraße in Moabit, dem Nöldner Platz in Lichtenberg, dem Klausener Platz in Charlottenburg, ganz zu schweigen von anderen Ecken in Neukölln und Kreuzberg, nicht zu erwähnen Alt-Mitte und Prenzlauer Berg. Und es ist offen, ob es der Politik gelingt, die Entwicklung wieder einzufangen.
Und weil Schillerkiez inzwischen überall ist, beendet die taz ihre Langzeitstudie mit einem Rundgang durchs Viertel.
Dieser Text ist Teil des aktuellen Schwerpunkts in der Wochenendausgabe der taz.berlin. Darin außerdem: Ein Kiezrundgang und ein Interview mit „Eier-Lörchen“. In ihrem Briefkasten und am Kiosk
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Umweltfolgen des Kriegs in Gaza
Eine Toilettenspülung Wasser pro Tag und Person
Streit in der SPD über Kanzlerkandidatur
Die Verunsicherung
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Biden genehmigt Lieferung von Antipersonenminen
BGH-Urteil gegen Querdenken-Richter
Richter hat sein Amt für Maskenverbot missbraucht
Hype um Boris Pistorius
Fragwürdige Beliebtheit
Putins Atomdrohungen
Angst auf allen Seiten