Barock-Ausstellung in Mannheim: Auf den Spuren eines Zeitalters
Das Barock hat bis heute nichts an Aktualität verloren. Es geht um die Angst vor Multikulturalität – und ein auseinanderbrechendes Europa.
Barock, Renaissance, Mittelalter, Antike: Die Menschheit teilt sich ihre Zeit auf Erden gern ein. Der französische Historiker Jaques Le Goff bestreitet in seinem gerade auf Deutsch erschienenen Essay „Geschichte ohne Epochen?“ jedoch, dass es so etwas wie „die Renaissance“ überhaupt gegeben habe.
Stattdessen spricht er von „Renaissancen“, welche die Zeit seit dem Ende der Antike immer wieder aufgemischt hätten: „Ein langes Mittelalter“ also, das sich erst Mitte des 18. Jahrhunderts zu etwas wandelt, was wir dann als die Epoche bezeichnen dürfen, in der wir immer noch leben, ob wir sie nun Neuzeit, Moderne, Anthropozän oder sonst wie nennen.
Zwei Ereignisse sind es, die Le Goff den Bruch zum Heute um 1750 ansetzen lassen: erstens die Konstruktion der Dampfmaschine durch James Watt 1769, das Höllenjahr der beginnenden Industrialisierung, mit der wir via Klimawandel und die daraus folgende Zerstörung des Planeten noch immer in einer fatalen Verbindung stehen.
Einige Jahre zuvor, 1751, hatte in Frankreich außerdem ein Projekt begonnen, das unwiderruflich den Vorrang von Vernunft und Wissenschaft über das christliche Dogma erklärte: die „Enzyklopädie oder ein durchdachtes Wörterbuch der Wissenschaften, Künste und Handwerke“, betrieben von Leuten wie Diderot, Voltaire, Montesquieu und Rousseau.
Eine Mischung aus Hysterie und Verzagtheit
1757 verwendete Mirabeau zum ersten Mal das Wort „Fortschritt“, um ein Voranschreiten der Zivilisation zu einem blühenden Zustand zu bezeichnen und durchbrach damit das Dogma der „alternden Welt“, die nur auf die Erlösung in der Apokalypse wartet. Stattdessen geschah passgenau die Französische Revolution, die klar machte, dass die Menschheit nicht nur alte Zöpfe, sondern auch königliche und sonstige Aristokratenköpfe abzuschneiden bereit ist.
Und wir jetzt so? Sind wir nicht eher genervt, wenn nicht überfordert von all dem Aufbruchspathos unserer Vorfahren? Hoffnung auf Fortschritt, echt jetzt? Und noch schlimmer: Aufklärung!? Unsere westliche Zeit – denn um die geht es hier immer – scheint eher gekennzeichnet von einer Mischung aus Hysterie und Verzagtheit, bei sich gleichzeitig weiter enorm schnell ablösenden Wissens-, Technologie-, und Globalisierungs-‚Renaissancen‘.
Damit sind wir beim Barock, also in Mannheim. Mit sechs Leitfragen und entsprechenden Räumen soll in der Ausstellung „Barock – Nur schöner Schein?“ einem Zeitalter auf die Spur gekommen werden, das sich dem Epochenbegriff wie wenig andere zu entziehen scheint.
Geht es zwischen 1580 und 1750 in Europa nun vorwärts oder zurück? Die Leute waschen sich nicht mehr mit Wasser, weil sie die Haut für porös halten. Stattdessen wischen sie sich mit trockenen Tüchern ab, parfümieren sich und setzen sich Flohfallen in die in Mode kommenden Perücken – ganz im Gegensatz zu den wasser- und sinnenfreudigen Badehäusern des Mittelalters, von der Antike gar nicht zu reden. Alles Aberglaube und Hexenwahn?
Die Entdeckung der Bakterien
In „Wissen“, dem stärksten Raum der Ausstellung, wird gezeigt, dass Barock nicht nur bedeutet, sich auf einmal zu den Sternen aufschwingen zu können (Galileo Galilei und sein Fernrohr, das ihm 1624 nicht umsonst den Vergleich mit Columbus einbrachte), sondern auch, all das mehr oder eben eher weniger possierliche Getier zu entdecken, das sich so im Wasser rumtreibt:
Fast gleichzeitig zum Fernrohr Galileis erfindet der Holländer Antoni van Leeuwenhoek das Mikroskop und entdeckt im menschlichen Speichel etwas, das später „Bakterien“ genannt werden wird; und wenn man seit Kindertagen mal wieder durch ein in der Ausstellung bereit gestelltes Mikroskop schaut und die haarigen Beine einer Fliege sieht, dann versteht man den barocken Schauder vor dem Wasser schon sehr viel besser.
Etwas Stockendes im Voranschreiten ist in dieser Zeit, eine merkwürdige Verbindung von tabuloser Neugier und angstvoller Religiosität, wie sie sich in dem wächsernen „Christus anatomicus“ der Universität Ingolstadt widerspiegelt, bei dem, wie es der Katalog formuliert, „das perfekte Ineinandergreifen der Organe“ das Wunder der göttlichen Schöpfung vor Augen führen soll.
Die meisten Heutigen empfinden das wohl nicht mehr als „blasphemisch“, aber doch als geschmacklos, ein Wie-Wort, das wie ‚überladen‘ dem Barock landläufig immer anhängt. Dann aber steht man vor einem Bild mit dem gar nicht unbarocker denkbaren Titel „Alte Frau beim Geschirrputzen“, ein hyperrealistisches Ölgemälde des in Nürnberg geborenen und in Wien wirkenden Martin Dichtl (1639-1710), der die Abbildung von Küchenpersonal und Utensilien zu seinem Markenzeichen machte.
NE TOTA DEHISCAT
Man denkt sich dieses „Topfstilleben“ erst als Gegensatz zu der bizarren Christuspuppe, nur um dann zu sehen, das auch hier eine (Bauch-)Decke gelüftet wird: Nach dem entgrenzenden Festschmaus oben im Festsaal muss irgendwer unten in der finsteren Küche die Ordnung wiederherstellen, die Pfannen und Holzbretter strahlen im Helldunkel; und dass die dunkel gekleidete und schwarzhaarige, perückenlose, früh gealterte Frau die langstielige Kupferpfanne mit dermaßen verbittertem Gesicht ausscheuert – das hat Wucht im Sinne von Schicksal und zugewiesener, erzwungener „Ordnung“.
In ebendiesem Ausstellungsraum – neben dem schon erwähnten „Wissen“ zeigt die Schau auch „Raum“, Körper“, „Glaube“ und „Zeit“ – berührt vor allem ein Plan der Barockstadt Mannheim „wie solche anietzo gebawt und bewohnet würdt den 4. Aprilis A° 1663“. Jeder Wohnblock ist mit seinem Besitzer aufgeführt, und es überwiegen holländische und französische Bewohner, die nach den Zerstörungen des Pfälzischen Erbfolgekriegs in die wieder aufgebaute Planquadratestadt geholt wurden.
Die Ausstellung„Barock – Nur schöner Schein?“, Reiss-Engelhorn-Museen Mannheim, Zeughaus, bis 19. Februar 2017, Katalog 34,95 Euro
Der EssayJacques Le Goff: Geschichte ohne Epochen? Ein Essay. Verlag Philipp von Zabern, 2016, 24,95 Euro
Auch dem Spruch auf einer Silbermedaille zu eben diesen Krieg beendenden „Frieden von Rijswwijk“ kann man sich aktuell schwer entziehen: Auf der Vorderseite stehen die Gottheiten Pax und Merkur an einem abgesplitterten Globus, auf dem EVROPA steht, und befestigen einen Ölzweig. Erläutert wird diese Szene durch den Text NE TOTA DEHISCAT – Möge Europa (oder der Friede) nicht völlig auseinanderbrechen. Ach!
Schließlich: Ist „Barock“ jenes Zeitalter, in dem die europäischen, christlichen Menschen der Multikulturalität der Bekenntnisse nicht mehr entkommen konnten. Sie mussten sich irgendwie mit der Tatsache arrangieren, dass sie zwar noch an den selben Gott glaubten, das aber auf unwiderruflich ganz unterschiedliche Arten, mit divergierenden Voraussetzungen und Zielsetzungen. Christlicher Glaube ist seitdem Glaube in Abgrenzung und in Polemik zu einem anderen Christentum.
„Barock war aufwendig“
Man führte grauenhafte Krieg deswegen, man vertiefte das Eigene in katholischer Süßlichkeit und protestantischer Rationalisierung, man versuchte, die Menschen durch Überwältigung und Propaganda zu gewinnen, suchte sich neue Helden und Heilige. Gleichzeitig rückte all diesen europäischen Katholiken, Lutheranern und Reformierten die Welt auf den Pelz, die überlegenen chinesischen, indischen, persischen Hochkulturen des erstmals für alle erfahrbaren Globus.
„Barock war aufwendig“ schreibt Andreas Holzem in einem der Aufsätze des empfehlenswerten Katalogs, das große Palavern begann damals: 1609 erschien in Straßburg etwas, was man die erste Zeitung nennen kann, die Relation aller Fürnemmen und gedenckwürdigen Historien/so sich Inn diesem Jahr 1609 verlauffen.
„Barock“ ist für all das ein nachträglich gesetzter und abwertend gemeinter Begriff – genau wie „Mittelalter“; und man will nicht unbedingt wissen, welchen Namen sich die Nachgeboren für unsere unmittelbare Epoche 1989 ff ausdenken werden.
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