Autonome in Berlin: Die Tonangeber sind verstummt
Ob 1.-Mai-Demo, G-8-Protest oder Nazi-Blockaden – die Antifaschistische Linke Berlin war stets dabei. Nun hat sie sich aufgelöst.
BERLIN taz | Im April noch lud die ALB mit ein in die Technische Universität Berlin. „Antifa in der Krise?“ war der Titel des Kongresses. Rund 800 Diskutanten kamen und stritten sich ein Wochenende lang. Wo bleibt der Nachwuchs? Was tun gegen Anti-Asyl-Hetze? Was gegen den AfD-Aufstieg?
Offenbar blieben die Antworten aus. In der Nacht zu Dienstag zog die „Antifaschistische Linke Berlin“ die radikalstmögliche Konsequenz: Sie löste sich auf. Offen werden in einer letzten Erklärung „Ratlosigkeit, Resignation und Austritte“ eingeräumt. „Ehemals bewährte Konzepte eignen sich nur noch bedingt für die politischen Fragen unserer Zeit.“ Ein „Weiter so“ sei „keine gemeinsame Perspektive mehr“.
Dabei war die ALB nicht irgendwer. Seit elf Jahren gab die Gruppe den Ton in der autonomen Szene Berlins vor, führte einen eigenen Laden mit Szenebedarf – natürlich in Kreuzberg. Sie organisierte maßgeblich den alljährlichen 1.-Mai-Aufzug, der in den letzten Jahren bis zu 20.000 Teilnehmer versammelte.
Die ALB wirkte auch bundesweit: der Großprotest gegen den G-8-Gipfel in Heiligendamm, Anti-Nazi-Blockaden in Dresden, die Belagerung des Finanzzentrums in Frankfurt/Main – überall war sie dabei. Nicht zufällig führte die zentrale Internetseite www.antifa.de direkt zur ALB.
Bundesweit sortiert sich die Szene neu
Dass gerade diese Gruppe jetzt aufgibt, ist auch ein Symptom. Denn die Antifa-Szene sortiert sich gerade bundesweit neu. In Frankfurt/Main löste sich die Antifa nach zehn Jahren auf, startete als „kritik&praxis“ mit neuem, „kooperativem“ Konzept. In Göttingen entstand eine „Basisdemokratische Linke“. Auch sie ist gewillt, die klassische Antifa-Arbeit zu erweitern.
Zuletzt stand die Antifa nicht gut da. Die NSU-Mordserie hatten auch die Bewegung kalt überrascht. Die jüngsten Asylproteste organisierten die Flüchtlinge weitgehend autark, nur punktuell gesellten sich Autonome dazu. Zur Debatte über die Massenüberwachung blieb die Antifa stumm. Und selbst der Aufstieg der „Alternative für Deutschland“, die derzeit hart nach rechts außen steuert, fand in der Szene kaum Resonanz.
Die ALB formuliert es schonungslos. In einer „Schockstarre“ befinde sich die radikale Linke. Vieles sei „Stillstand und Phrasendrescherei“. Es brauche eine neue „linksradikale Perspektive, die ihren Namen noch verdient“.
Dabei war der Start der ALB ein hoffnungsvoller. Schon 1993 gründete sich in Berlin ihr Vorgänger, die „Antifaschistische Aktion Berlin“ (AAB). Das war auch ein Befreiungsversuch. Die Vermummung der klassisch Autonomen wurde gelüftet: Man wollte raus aus der Szene, ansprechbar sein. Es gab Pressesprecher – ein Novum. Und auf Demos knarzten nicht mehr Ton, Steine, Scherben aus alten „Lautis“, sondern Techno von Trucks. Es durfte getanzt werden, der Berliner Autonome trug nun auch Jeans statt nur schwarz.
Antifa wurde Mainstream
Schnell hatte die Gruppe ihr Label weg: „Pop-Antifa“. Intern wird der Kurs bis heute verteidigt. Etwas verändern lasse sich nur in größeren Zusammenhängen, sagt Valentin. Der Mittdreißiger gehörte seit den 1990ern zur ALB. Eigentlich heißt er anders. „Wir haben es geschafft, mit wenigen Leuten viel Aufmerksamkeit rauszuschlagen.“
80 Leute gehörten in der Hochphase zur ALB. Am Ende waren es vielleicht noch 30, viele inzwischen in Valentins Alter, einige mit Kindern. 30 Leute, die Zehntausende auf die Straße brachten. Höhepunkt war der G-8-Gipfel 2007 in Heiligendamm: Bundesweit rückte die Szene an, organisierte einen Alternativgipfel, drang in Sperrgebiete vor, legte Rostock per Großdemo lahm. Die ALB saß zwei Jahre mit im Vorbereitungskreis.
Schon zuvor gab es das erste Ende. 2000 rief SPD-Bundeskanzler Gerhard Schröder den „Aufstand der Anständigen“ aus, Antifa wurde Mainstream. Und den Autonomen fiel wenig zu der Frage ein, wie man mehr machen könne, als Faschos zu jagen. Die AAB zerbrach 2003 an der Frage, ob der Irakkrieg richtig sei und wie man zu den Antideutschen stehe – eine Fraktion lehnte beides ab. Sie wurde zur ALB.
Teile der damaligen Debatte kehren nun wieder. Es brauche eine „Neubewertung“ der „Fokussierung auf den Kameradschafts- und NPD-Nazi“, heißt es im ALB-Schlusswort. Der Kampf müsse sich erweitern: gegen den „Sozialchauvinismus“ breiterer Gesellschaftsschichten.
Pragmatische Postautonome
Zuletzt orientierte sich die ALB in Richtung „Interventionistische Linke“ (IL), ein bundesweites Netzwerk pragmatischer Postautonomer. Die setzen auf Kirchenleute und Gewerkschafter statt auf Steinhagel, um Neonazi-Aufmärsche wie in Dresden zu blockieren oder Castorgleise im Wendland zu „schottern“. Nicht wenige ALBler werden dort nun Anschluss finden.
Einigen aber sei dieser Ansatz „nicht radikal und antagonistisch“ genug, heißt es in der ALB-Erklärung. Sie würden sich „bestehenden Strukturen“ anschließen oder Neues gründen. Die Kritik kam zuletzt auch von den Radikaleren: Zu lasch, „zu versöhnlich“ sei die ALB, vor allem am 1. Mai. Der war in den letzten Jahren in Berlin nicht nur so groß wie seit Langem nicht und auch so friedlich. Einigen Autonomen offenbar auch zu friedlich.
Eine Sprecherin des Berliner Verfassungsschutzes sagte am Dienstag, die autonome Szene stehe am „Scheideweg“. Hier der klassisch schwarze Block, dort die, die Anschluss an die Zivilgesellschaft suchen. Anderen Gruppen stehe „ein ähnlicher Prozess wie bei der ALB bevor“.
Valentin, bis Dienstag ALBler, wird den Weg mit zur „Interventionistischen Linken“ gehen. Das Netzwerk sei eine Chance, sagt er. Mehr Vernetzung, mehr Schlagkraft. „Es ist immer gut, Neues auszuprobieren.“ Und: „Es gibt nicht viel zu verlieren.“
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