Aus Le Monde diplomatique: Fataler Reichtum
Während der deutsche Handelsüberschuss alle anderen noch ärmer macht, hat sich in Griechenland die Selbstmordrate inzwischen verdreifacht.
Von den Empörten in Spanien bis zur weltweiten Occupy-Wall-Street-Bewegung gehen allerorten Menschen auf die Straße, um sich gegen die Zumutungen des Finanzkapitalismus zu wehren: Zum einen gegen die Arbeits- und Perspektivlosigkeit der vielen, zum anderen gegen den Reichtum und die Macht der wenigen.
Vor allem ein Thema treibt die Menschen um - und das ist nicht die Staatsverschuldung, die so viele Politiker als Wurzel allen Übels darstellen, sondern etwas viel Fundamentaleres: die Verteilungsfrage.1
Diese Frage ist nicht nur in moralischer, sondern auch in wirtschaftspolitischer Hinsicht aktueller denn je. Beginnen wir bei der Eurokrise, um zu begründen, warum das so ist. Anders als uns die Politiker - vor allem in Deutschland - glauben machen wollen, sind die hohen Schulden ja nicht auf eine typisch südeuropäische Faulheit und Verschwendungssucht zurückzuführen. Die ebenso hoch verschuldeten Länder USA, Irland oder Japan widerlegen diese Behauptung.
ist freie Journalistin und Autorin. Zuletzt erschien von ihr: "Steuergerechtigkeit in der Globalisierung", Münster (Westfälisches Dampfboot) 2011. Sie ist Mitglied des wissenschaftlichen Beirats von Attac. Der Text lehnt sich an ein Expertisepapier des wissenschaftlichen Beirats von Attac an.
Die Überschuldung ist in fast allen Krisenländern eine Folge der 2007 ausgebrochenen Finanzkrise. Diese begann bekanntlich als Immobilienkrise in den USA, aber auch in Irland und Spanien,(2) und mutierte schnell zur Bankenkrise. Um die einzudämmen, sprangen die Staaten mit gigantischen Rettungsaktionen ein, ergänzt durch Konjunkturprogramme wie etwa die Abwrackprämie. Und all das finanzierten sie, wie auch sonst, auf Pump.
Die eigentliche Frage ist daher die nach den Ursachen der Finanzkrise. Natürlich gibt hier nicht die eine, allumfassende Erklärung. Zu den Faktoren, die zum Entstehen der Krise beitrugen, gehören beispielsweise die Deregulierung der Finanzmärkte und die dadurch ermöglichten hochriskanten "Finanzinnovationen"; die globalen und innereuropäischen Handels- und Wettbewerbsungleichgewichte, die etwa der griechischen Wirtschaft das Rückgrat brachen; und auch die künstlich niedrigen Zinsen - in den USA zur Bekämpfung der Rezession nach dem Crash der New Economy und in Südeuropa als Folge der Euro-Einführung -, die in zahlreichen Ländern zu einer Immobilienblase führten.
Diese verknappte Darstellung vermag jedoch nicht zu erklären, wo die gewaltige Macht der Finanzmärkte herrührt. Konkret: warum zum Beispiel auf die kostspieligen Bankenrettungen unmittelbar nach Ausbruch der Finanzkrise in der sich anschließenden Eurokrise gleich wieder ein Bankenrettungsschirm aufgespannt werden musste - natürlich auf Kosten der Steuerzahler.
Auch dafür gibt es mehrere Gründe. Da ist zum einen die erpresserische Macht der riesigen Bankkonzerne, die zu groß geworden sind, als dass man sie im Krisenfall sich selbst überlassen könnte ("too big to fail"). Da sind zum andern der Konkurrenzdruck der Globalisierung und das damit einhergehende Fallen der Profitraten. Dies führte dazu, dass die Renditen der Realwirtschaft als nicht mehr ausreichend erschienen und der globale Kapitalismus ein neues, profitträchtiges Anlagefeld entwickeln musste: eben die Finanzmärkte.
Die Krise hat also sehr vielfältige Ursachen, und es wäre eine unzulässige Vereinfachung, sie allein auf die Verteilungsfrage zurückzuführen. Dennoch gilt: Die Finanzmärkte hätten längst nicht die Macht, die sie haben, wenn sie nicht so viel Geld bewegen könnten - mehr als 200 Billionen US-Dollar, das Dreifache des Weltsozialprodukts.3 Und für diese globale Geldschwemme gibt es einen klar zu identifizierenden Grund: die zunehmende Konzentration von Einkommen und Reichtum in den Händen weniger.
Wenn das Volkseinkommen breit gestreut wird, das heißt als Lohn oder staatliche Transferleistung bei der gesamten Bevölkerung ankommt, dann wird ein großer Teil davon für den täglichen Bedarf gleich wieder ausgegeben. Das erhöht die Nachfrage und kurbelt die Realwirtschaft an. Wenn aber ein immer größerer Teil auf die Konten derjenigen fließt, die ohnehin mehr haben, als sie jemals ausgeben können, dann wird dieses Geld auf den Finanzmärkten angelegt.
Und zwar mit dem einzigen Ziel, sich scheinbar aus sich selbst heraus zu vermehren. Parallel dazu wachsen - ebenfalls scheinbar aus sich selbst heraus - die Finanzmärkte mit dem Effekt, dass die Realwirtschaft, sprich die Produktion von Gütern und allen möglichen nichtfinanziellen Dienstleistungen, zum bloßen Anhängsel verkümmert. Jedenfalls aus Sicht der Investoren.
Diese Entwicklung ist seit längerer Zeit im Gange. Seit den 1980er Jahren, seit Beginn des neoliberalen Aufbruchs der Regierungen von Thatcher und Reagan, hat die Politik dafür gesorgt, dass sich Arbeit und Einkommen zunehmend entkoppeln. Voraussetzung dafür war, die Macht der Gewerkschaften auf breiter Front zu brechen (nach dem Vorbild Margaret Thatchers) und ganz bewusst einen Niedriglohnsektor zu schaffen, und zwar mittels Deregulierung der Arbeitsmärkte und dem Rückbau des Sozialstaats (die Methode Gerhard Schröder). Die Folge war, dass die Reallöhne stagnierten oder sogar sanken und der Anteil der Löhne am gesamten Volkseinkommen schrumpfte. Im Vergleich dazu sind die Managerbezüge und die Gewinne im Finanzsektor regelrecht explodiert. Eben diese Gewinne lassen die Vermögen der ohnehin schon Vermögenden weiter anwachsen und stocken damit die Geldmenge auf, die auf den globalen Finanzmärkten angelegt werden.
Dabei versteht sich fast von selbst, dass dieser wachsende Reichtum sich nicht in den Steuereinnahmen des Staates widerspiegelt, so dass dieser viel zu wenig zu einer Rückverteilung an die Bedürftigeren beitragen kann. Im Gegenteil: In Deutschland und den meisten anderen entwickelten Ländern haben die Steuerreformen der vergangenen Jahre, sprich die Senkung der Steuern auf Spitzeneinkommen, Kapitalerträge und Konzerngewinne, die Umverteilung von unten nach oben noch verstärkt.
"Es geht nicht um Verteilungsgerechtigkeit, es geht um Chancengerechtigkeit", lautete das Argument, mit dem Bundeskanzler Gerhard Schröder diese Weichenstellung verkauft hat. "Eine Gesellschaft lebt dynamischer, wenn es Ungleichheiten gibt", verkündete sein Wirtschaftsminister Werner Müller. Und der damalige SPD-Fraktionschef Peter Struck befand, die traditionelle SPD-Politik nach dem Motto: "von den Reichen nehmen, um den Armen zu geben", könne nicht länger "die Politik unserer modernen Gesellschaft sein".(4)
Das war nicht nur leeres Gerede. Die Einkommen der Gut- und der Geringverdiener haben sich seit dem Antritt der rot-grünen Regierung tatsächlich dramatisch auseinanderentwickelt. Bei den Managerbezügen ließen sich exponentielle Steigerungen durchsetzen, während am anderen Ende des Spektrums ein prekärer Niedriglohnsektor geschaffen wurde. Von 1999 bis 2009 schrumpfte das Einkommen des Bevölkerungszehntels mit dem geringsten Einkommen um 9,6 Prozent, im gleichen Zeitraum wuchs es beim obersten Zehntel um 16,6 Prozent.(5)
Dazu passt eine Meldung der Hans-Böckler-Stiftung, wonach allein in den Krisenjahren zwischen 2008 und 2010 die durchschnittliche Vergütung von Unternehmensvorständen um 21 Prozent zulegte (zusätzliche Leistungen zur Altersvorsorge noch nicht eingerechnet).(6) In den letzten zehn Jahren sind die Vorstandsbezüge real (das heißt inflationsbereinigt) sogar um 94 Prozent gestiegen, haben sich also fast verdoppelt. Die Reallöhne der Arbeitnehmer sanken derweil um 3 Prozent. 2010 lag für 11,5 Millionen Menschen, das sind 14 Prozent der deutschen Bevölkerung, das verfügbare Einkommen unter der von der EU definierten Armutsrisikoschwelle.
Im internationalen Vergleich nimmt die Einkommensungleichheit in Deutschland überdurchschnittlich stark zu. Nach einer OECD-Studie ist zwischen 1980 und 2010 die Ungleichheit bei den Einkommen hierzulande mehr als doppelt so stark angewachsen wie im OECD-Durchschnitt. Mit dieser "Dynamik der Ungleichheit" liegt Deutschland unter den entwickelten Ländern an sechster Stelle. Nur in Ländern wie den USA und Portugal ist die Kluft zwischen den Gut- und den Geringverdiener noch tiefer geworden.(7)
Gerade in den USA als dem Land mit dem größten Finanzmarkt überhaupt entwickeln sich die Einkommen in alarmierendem Tempo auseinander. Wie Untersuchungen der Ökonomen Emmanuel Saez und Thomas Piketty zeigen,(8) stiegen im Zeitraum von 2000 bis 2007 für 90 Prozent der Bevölkerung die Einkommen nach Abzug der Inflation nur um insgesamt 4 Prozent. Dagegen durften sich die 0,1 Prozent Topverdiener über ein Plus von mehr als 90 Prozent freuen.
Als dann nach dem Schock, den die Pleite der Investmentbank Lehman Brothers 2008 ausgelöst hatte, die Einkommen langsam wieder zu wachsen begannen, landete dieser Zuwachs komplett bei dem einen Prozent der absoluten Spitzenverdiener. Die Mitglieder dieses exklusiven Clubs - viele von ihnen im Finanzsektor tätig - beziehen 20 Prozent des gesamten von US-Bürgern erarbeiteten Einkommens.
Solche Entwicklungen schlagen sich natürlich in den Statistiken über die Konzentration des Reichtums nieder. Der Grund ist einfach: Spitzenverdiener geben nicht ihre gesamten Einkünfte aus. Mit dem Geld werden vielmehr die zum Teil ohnehin schon beträchtlichen, oft durch Erbschaften oder auch Unternehmensgründungen erlangten Vermögen weiter vergrößert.
Einen ersten Eindruck geben hier die Schätzungen der Allianz. Die Versicherung interessiert sich für solche Daten, da sie mit ihrer Tochter Allianz Global Investors auch eine Vermögensverwaltung betreibt. Das reine Geldvermögen der Deutschen belief sich demnach Ende 2010 auf 4,88 Billionen Euro. Im Durchschnitt besaß jeder Bundesbürger damit 59 900 Euro, fast 3 000 Euro mehr als ein Jahr zuvor. Aber das sind Durchschnittswerte, natürlich haben die meisten von uns nicht annähernd 60 000 Euro auf dem Konto.
Aufschlussreicher ist deshalb der sogenannte D.A.CH-Vermögensreport einer anderen Investmentgesellschaft, der Liechtensteiner Valluga. Demnach gab es 2010 in Deutschland 829 900 Vermögensmillionäre; das waren trotz Krise 6,5 Prozent mehr als im Vorjahr. Diese Millionäre machen gut 1 Prozent der Bevölkerung aus. Sie besitzen dem Report zufolge fast ein Drittel des gesamten privaten Finanzvermögens (wobei der Wert selbst genutzter Immobilie nicht eingerechnet ist). Den Prognosen nach wird diese Vermögenssumme bis 2014 auf 2,9 Billionen Euro anwachsen. Das entspräche, und hier wird es spannend, einem Zuwachs von 7,3 Prozent pro Jahr. Aber selbst unter den Superreichen wächst die Ungleichheit: Die Milliardäre unter ihnen bringen es auf Wachstumsraten zwischen 8 und 10 Prozent.
Ähnliches weiß das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) zu berichten. In ihrem Sozio-oekonomischen Panel (SOEP), das auf regelmäßigen Befragungen basiert, kamen die Forscher für das Jahr 2008 auf ein Vermögen (diesmal inklusive Immobilien) von 88 034 Euro pro Erwachsenem. Das ist ein Plus von 10 Prozent innerhalb von fünf Jahren.(9)
Auch hier verschleiern allerdings die Durchschnittswerte den tatsächlichen Zustand im Land. Der vom DIW ermittelte Vermögenszuwachs kam nämlich fast ausschließlich den Millionären zugute. Schon in der Mitte der Reichtumspyramide reichte es nur noch für einen durchschnittlichen Zuwachs von 1,9 Prozent in fünf Jahren. Die reichsten 10 Prozent verfügten demnach 2008 über 61,1 Prozent des Gesamtvermögens - 2002 waren es noch 57,9 Prozent gewesen. Dagegen haben 27 Prozent der Bevölkerung gar kein oder negatives Vermögen, sprich: Schulden.
DIW-Forscher Stefan Bach präsentiert noch eindrucksvollere Zahlen.(10) Er ergänzt die SOEP-Daten durch Angaben des Manager Magazins, das regelmäßig eine Liste der Superreichen veröffentlicht, also der Aldi-Albrechts, der Versandhaus-Ottos und der BMW-Quandts. Diese wenigen extrem Reichen sind so verschwiegen, dass sie im Rahmen normaler Befragungen meist gar nicht erfasst werden können, wodurch sich das Bild natürlich verzerrt. Wenn man diese Riesenvermögen mit einrechnet, ergibt sich folgende Verteilung: 0,1 Prozent der bundesdeutschen Haushalte besitzen 22,5 Prozent des gesamten Vermögens im Land. Das reichste eine Prozent kommt auf 35,8 Prozent, also mehr als ein Drittel. Die Top 10 Prozent besitzen schon zwei Drittel, während für die gesamte untere Hälfte gerade mal 1,4 Prozent bleiben.
Beim Blick über den Atlantik entdeckt man noch extremere Verhältnisse. 43 Prozent des gesamten Nettovermögens von US-amerikanischen Privathaushalten konzentrieren sich beim reichsten Prozent der Bevölkerung und 83 Prozent bei den reichsten 10 Prozent.(11) Weltweit zählen übrigens knapp 11 Millionen Menschen, also 0,16 Prozent der Weltbevölkerung, zu den Dollarmillionären (selbst genutzte Immobilien nicht gerechnet). Die meisten von ihnen leben nach wie vor in den USA, gefolgt von Japan und Deutschland; aber Hongkong, Indien, Vietnam oder Indonesien holen in dieser Hinsicht sehr schnell auf.
Diese globale Klasse der Reichen, die von den internationalen Vermögensverwaltungsgesellschaften als High Net Worth Individuals (HNWIs) umworben werden, hält mehr als ein Drittel des weltweiten Geldvermögens.(12) Die NGO Tax Justice Network geht in einer neuen Studie davon aus, dass diese Zahlen noch weit untertrieben sind, weil die gigantischen in Steueroasen versteckten Vermögen - die Schätzungen reichen bis zu 32 Billionen US-Dollar - meist gar nicht erfasst sind.(13) Werden sie eingerechnet, könnte sich ein Drittel des tatsächlichen globalen Geldvermögens in den Händen von nicht einmal 100 000 Menschen befinden. Das wären 0,001 Prozent der Weltbevölkerung.
Was hat dieser sagenhafte Reichtum in den Händen sehr weniger Individuen nun mit der aktuellen Krise zu tun? Wie oben gezeigt, vagabundieren die überschüssigen, weil nicht mehr konsumierten Geldmengen auf der Suche nach möglichst profitablen und damit riskanten Anlagemöglichkeiten um die Welt. Doch die enge Korrelation zwischen Ungleichheit und Krisenanfälligkeit hat noch eine weitere Ursache: die relative Verarmung der unteren Einkommensschichten, die die unvermeidliche Kehrseite der geschilderten Einkommens- und Vermögenskonzentration ist. Um ihren Lebensstandard zu halten, haben vor allem in den USA viele ihr eigenes Häuschen verpfändet. Und auch in den südeuropäischen Ländern (vorweg Spanien) stieg die private Verschuldung. Zugleich stagnierte wegen der äußerst bescheidenen Lohnentwicklung die Nachfrage, was die Realwirtschaft geschwächt und zu mehr riskanten Investitionen auf den Finanzmärkten geführt hat.
Während Normalsparer ihr Geld zu 39 Prozent ganz klassisch als Sparguthaben und zu 28 Prozent in relativ konservativen Kapitalmarktprodukten anlegen (vor allem in Investmentfonds), drehen die HNWIs (oder Millionäre) ein deutlich größeres Rad.(14) Ein knappes Drittel ihres Vermögens investieren sie in Staats- und Unternehmensanleihen, ein Drittel in Aktien (die US-Millionäre kauften sogar für 42 Prozent ihre Geldes Aktien). Außerdem schätzen sie aus Angst vor Inflation insbesondere Immobilien und zunehmend auch Rohstoffe und Derivate, die riskantesten der spekulativen Finanzpapiere. Es sind also eindeutig die Vermögen der Superreichen und nicht die bescheidenen Ersparnisse der Normalbevölkerung, die für die Potenzierung der Risiken in den Finanzmärkten verantwortlich sind.
Um den Zusammenhang von Reichtum und Krise zu erläutern, lohnt sich auch ein Ausflug in die Geschichte. So warnte der US-Ökonom und Nobelpreisträger Paul Krugman im New York Times Magazine vor Zuständen wie in den 1920er Jahren, die in den USA als "Gilded Age" bezeichnet wurden.(15) Er erzählte von den gigantischen Villen aus jener Ära, die er als Teenager auf Long Island bestaunte, wobei er sich den Reichtum vorzustellen versuchte, der allein für die Entlohnung der Heerscharen von Dienstboten nötig war.
Der trügerische Glanz an der Oberfläche
Das vergoldete Zeitalter - es heißt so, weil der Glanz nur an der Oberfläche war - endete bekanntlich mit dem Crash von 1929 und der Weltwirtschaftskrise. Mit dem New-Economy-Boom der 1990er Jahre und dem sich anschließenden Immobilienboom der 2000er Jahre erreichte die Einkommens- und Vermögensverteilung in den USA erneut so extreme Werte wie in den 1920er Jahren. Krugmans Aufsatz erschien vor zehn Jahren. Mit seiner Mahnung hat er leider recht behalten. Auch diesmal endete die Chose in einer Finanzmarktkrise, die sich längst zur globalen Wirtschaftskrise ausgeweitet hat.
Aus der Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre wurden damals in den USA zumindest einige wichtige Lehren gezogen: Zum einen setzte man eine strenge Regulierung der Banken und Finanzmärkte durch, die bis in die 1990er Jahre für relative Stabilität sorgte. Zum anderen wurden unter Präsident Roosevelt - wie aus dem keynesianischen Lehrbuch - Arbeitsbeschaffungsprogramme und Infrastrukturinvestitionen durchgeführt, von denen die USA heute noch zehren. Damals begann zugleich eine Epoche vergleichsweise geringer Ungleichheit, die mit hoher finanzpolitischer Stabilität einherging und bis weit in die Nachkriegszeit hinein andauerte.
Das interessanteste Element der damaligen Krisenbekämpfung ist ihre Finanzierung: Sie erfolgte hauptsächlich durch Steuern. Diese verschaffen dem Staat nicht nur finanzielle Spielräume, ohne dass er dafür Schulden aufnehmen muss, sie entfalten darüber hinaus auch eine segensreiche Umverteilungswirkung. Denn mit den Steuern, die der Staat überproportional von den Reichen nimmt, kann er zum Beispiel Bildungs- und Sozialausgaben bezahlen, von denen alle etwas haben. Der Spitzensatz der Einkommensteuer in den USA, der bis zum Crash 1929 bei nur 25 Prozent gelegen hatte, wurde in den 1930er Jahren stufenweise auf 79 Prozent angehoben, um dann nach dem Zweiten Weltkrieg auf 91 Prozent zu steigen.(16) Die von konservativer und liberaler Seite mantrahaft wiederholte Behauptung, hohe Einkommensteuersätze seien leistungsfeindlich und stünden somit der wirtschaftlichen Entwicklung im Wege, kann seither als widerlegt gelten. Trotzdem liegt der Spitzensteuersatz in den USA heute bei gerade einmal 35 Prozent.
In der aktuellen Krise werden die Erinnerungen an frühere Zeiten wieder sehr lebendig. Die schon erwähnten US-Ökonomen Emmanuel Saez und Thomas Piketty, denen die ungleiche Einkommensverteilung Sorgen macht, können sich durchaus eine Rückkehr zu Spitzensteuersätzen von 50 oder sogar 90 Prozent vorstellen. Und Frankreichs Präsident François Hollande hatte in seinem Wahlkampf 75 Prozent angekündigt. Selbst die SPD, die in der Ära Schröder den Spitzensteuersatz von 53 auf die heutigen 42 Prozent gesenkt hatte, fasste auf ihrem Parteitag Ende 2011 den programmatischen Beschluss, im Falle ihres Einzugs in die Regierung eine zaghafte Anhebung auf 49 Prozent anzustreben.
Zunehmend werden auch Forderungen laut, die Reichen direkt an den Kosten der Krise zu beteiligen, die sie zumindest mit verursacht haben. Wie ein "Senior Economist" der Allianz-Vermögensverwaltung bei der Vorstellung eines Vermögensreports zur Eurokrise bemerkte: Die staatliche Verschuldung sei nur "die halbe Geschichte", weil es ja auf der anderen Seite auch viel privates Vermögen gebe. Für den Mann stand fest: "Alle apokalyptischen Untergangsszenarien sind verfrüht. Denn die Substanz ist ja da."(17) Von dieser Feststellung ist es nur noch ein kleiner Schritt bis zu der Forderung, dass die überschuldeten Staaten die vorhandenen Vermögen zur Finanzierung der Schulden beziehungsweise der Krisenkosten heranziehen sollten.
"Besteuert uns", forderten vergangenes Jahr französische Milliardäre per Zeitungsanzeige. Auch sie haben schließlich Interesse an stabilen Verhältnissen. In Italien erklärte Ferrari-Aufsichtsrat Luca di Montezemolo: "Ich bin reich. Es wäre nur gerecht, wenn ich mehr zahlte." Und in Deutschland haben jüngst mehrere Organisationen und Initiativen, darunter neben Attac auch die Initiative Vermögensteuer jetzt! und die Initiative Vermögender für eine Vermögensabgabe, ein Bündnis unter dem Motto "Umfairteilen - Reichtum besteuern" gegründet.
Die SPD-regierten Bundesländer wollen neuerdings die seit 1997 nicht mehr erhobene Vermögensteuer wieder einführen. Trotz eines äußerst großzügigen Freibetrags von 2 Millionen Euro, pro Person wohlgemerkt, und einer Höhe von nur 1 Prozent sollen auf diese Weise 11,5 Milliarden Euro pro Jahr in die Kassen der Bundesländer kommen.
Einen anderen Plan verfolgen die Grünen: Sie wollen nach dem Modell des Lastenausgleichs, der nach dem Zweiten Weltkrieg den Flüchtlingen zugutekam, die Reichen durch eine einmalige Vermögensabgabe an der Finanzierung der Krisenlasten beteiligen. Nach diesem Plan sollen im Lauf von zehn Jahren 100 Milliarden Euro zusammenkommen.
Damit soll keinesfalls gesagt sein, dass höhere Steuern ein Allheilmittel wären. Da die Krise viele Ursachen hat, müssen auch die Lösungsvorschläge vielfältig sein: von einer Re-Regulierung der Finanzmärkte und der Zerschlagung der Großbanken über einen Schuldenerlass für überschuldete Staaten bis hin zu einer expansiven Lohnpolitik und staatlichen Investitionsprogrammen.
Gleichwohl sind Steuern ein entscheidendes, bislang in der politischen Diskussion jedoch unterschätztes Element zur Krisenbekämpfung, für die der Staat ebendiese Steuereinnahmen dringend braucht. Ebenso wichtig sind sie aber auch für die Vermeidung künftiger Krisen, denn ein vernünftiges Steuersystem bewirkt eine Umverteilung von oben nach unten. Steuern helfen also gegen die ungerechte Verteilung des Reichtums - und damit gegen eine der wesentlichen Krisenursachen.
Fußnoten:
(1) Siehe z. B. "Protest Spurs Online Dialogue on Inequity", "New York Times, 8. Oktober 2011.
(2) In Japan ist die hohe Verschuldung eine Folge des dort viel früher, nämlich schon Anfang der 1990er-Jahre, stattgefundenen Immobiliencrashs.
(3) McKinsey beziffert die Summe aller Aktien, Anleihen und Kredite weltweit auf 212 Billionen US-Dollar (Mapping Global Capital Markets 2011).
(4) Alle Zitate aus: "Der große Graben", "Der Spiegel, 17. Dezember 2007.
(5) Siehe Markus M. Grabka, "Eine Bestandsaufnahme: Kinder-/Armut in Deutschland", Präsentation auf der Tagung "Kinderarmut in Deutschland und Europa" der Arbeitsgemeinschaft der deutschen Familienorganisationen am 30. 11. 2010 in Berlin.
(7) OECD: StatExtracts 2010, Income Distribution - Inequality.
(8) "For Two Economists, the Buffett Rule Is Just a Start", "New York Times, 16. April 2012.
(9) Joachim R. Frick und Markus M. Grabka, "Gestiegene Vermögensungleichheit in Deutschland", in: "DIW Wochenbericht, Nr. 4, 2009, S. 54-67.
(10) www.vermoegensteuerjetzt.de/images/studien/Praesentation_Bach.pdf; Angaben nach einer Studie über eine Vermögensabgabe für die grüne Bundestagsfraktion.
(11) E. N. Wolff, "Recent trends in household wealth in the United States: Rising debt and the middle-class squeeze - an update to 2007", The Levy Economics Institute of Bard College, Working Paper, No. 589, Annandale-on-Hudson 2010.
(12) Capgemini, Merrill Lynch, Global Wealth Report 2011, und Boston Consulting Group: Global Wealth Report 2011.
(13) James S.( )Henry, "The Price of Offshore Revisited - New Estimates for ,Missing' Global Private Wealth, Income, Inequality, and Lost Taxes", Tax Justice Network, Juli 2012.
(14) Siehe Anmerkung 12.
(15) Paul Krugman, "For Richer", "New York Times Magazine, 20. Oktober 2002.
(16) Vgl. Sam Pizzigati, "Genug ist genug", "Le Monde diplomatique, Februar 2012.
(17) "Die Spur des Geldes", "Der Spiegel, 19. September 2011.
Le Monde diplomatique vom 10.8.2012
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Interner Zwist bei Springer
Musk spaltet die „Welt“
Gastbeitrag in der „Welt am Sonntag“
Bequem gemacht im Pseudoliberalismus