Türkdeutsche und Ostdeutsche: "Diese verfluchte Einheit"
Was Ostdeutsche und Türkdeutsche miteinander verbindet – und warum sie sich trotzdem nicht leiden können. Mit der Wiedervereinigung fing es an.
BERLIN taz | Arbeitslosigkeit, Bildungsferne, Extremismus - in nahezu allen Krisenstatistiken belegen sie regelmäßig die vorderen Ränge. Die Rede ist von den Problemkindern dieses Landes: den Ostdeutschen und den Türkdeutschen. Beide tun sich schwer damit, die demokratischen Spielregeln zu akzeptieren, und hegen Sympathien für totalitäre Weltanschauungen. Oder andersherum: Beide sind es leid, Gegenstand fortwährender Verdächtigungen zu sein und sich immerzu erklären zu müssen.
Sie werden manchmal schlecht behandelt und haben noch häufiger das Gefühl, schlecht behandelt zu werden. Beide haben Fürsprecher, die ein handfestes Interesse daran haben, die Benachteiligungen nicht nur anzuprangern, sondern die Differenz zum Rest der Gesellschaft fortzuschreiben. Denn darauf beruhen ihre Geschäftsmodelle.
Noch in der gegenseitigen Aversion sind sich beide ähnlicher, als man vielleicht annehmen sollte. Denn beide sind der Auffassung, dass der jeweils Andere nicht wirklich hierher gehört und dieses Land ohne ihn ein besseres wäre. Schließlich meinen beide einiges über den Anderen zu wissen, kennen diesen aber so gut wie gar nicht.
Doch wer gewillt ist, eine seriöse Abhandlung über das Verhältnis beider Populationen zu verfassen, steht vor einem Problem: Er steht ohne jedes empirische Material da. Denn die Ossiforschung und die Migrationsforschung sind voneinander strikt getrennte Disziplinen; Meinungsumfragen, die zwischen Ost und West unterscheiden, differenzieren vielleicht nach Alters-, Klassen- oder Geschlechtszugehörigkeit, erfassen aber nicht die Einwanderer gesondert.
Umgekehrt scheren sich Erhebungen unter Einwanderern niemals um die Ossis. Und Kriterien, mit denen Sozialforscher den Grad der "Integration" von Türken, Exjugoslawen oder Arabern abzulesen versuchen - etwa anhand der Bildungsabschlüsse oder der Anzahl bikultureller Ehen -, gibt es für die Integration von Sachsen, Brandenburgern und Thüringern nicht.
geboren 1973 in Südhessen, ist taz-Redakteur. Einige seiner besten Freunde sind Ossis
So kann auch dieser Text auf nichts Zuverlässigerem gründen als auf eigenen Erfahrungen und Beobachtungen. Da sind Verallgemeinerungen unumgänglich. Unterhält man sich mit älteren Deutschtürken, kommt regelmäßig folgender, fast schon klassischer Satz: "Almanyanin eski tadi kalmadi", übersetzt: "Deutschland schmeckt nicht mehr wie früher."
Nun mag dieses Gerede mit der generellen menschlichen Neigung zusammenhängen, mit fortschreitendem Alter das, was war, immer besser zu finden als das, was ist. Interessant ist dennoch, welche Gründe viele Deutschtürken nennen, wenn sie darlegen sollen, warum sie finden, dass Deutschland am Arsch ist.
Der erste Grund sind, so platt das klingen mag, die Ossis. Oder weniger personalisiert ausgedrückt: die Wiedervereinigung. Als vor zwanzig Jahren die Mauer fiel und kurzzeitig das gesamte Land in einen kollektiven Freudentaumel verfiel, verfolgten dies viele Ausländer - keineswegs nur die eingewanderten Türken - mit Unbehagen.
Das geht gegen uns, war die Befürchtung, die sich bald in den Pogromen von Hoyerswerda und Rostock und den Mordanschlägen von Mölln und Solingen zu bewahrheiten schien. Das fröhliche Ausländertotschlagen wurde dann zwar reduziert, aber dafür kamen andere Probleme. Und sind geblieben.
"Diese verfluchte Einheit"
"Lass mich deine Augen küssen, Westberlin", seufzt meine Nachbarin N., nach dem Leben in der geteilten Stadt gefragt. (Ihre Antwort klingt auf Türkisch im Übrigen überhaupt nicht verschroben, aber diese Redewendung ist so schön, dass sie es verdient, wörtlich übersetzt zu werden.)
"Gut, die Wohnungen waren schlecht, mit Außenklos und ohne Duschen", fährt N., die Anfang fünfzig ist und in Kreuzberg einen Kiosk betreibt, fort. "Aber es gab überall Arbeit - Schaub-Lorenz, Telefunken, Mercedes … Dann die vielen Zulagen, du hast viel besser verdient als im Westen, weshalb viele Türken dann auch rüberkamen. Und dann kam diese verfluchte Einheit, und alles ging kaputt."
Auch ohne das spezifische Westberliner Lokalkolorit eine durchaus typische Erzählung. Ein unter dem Pseudonym Bayram Karamollaoglu schreibender Autor ironisierte im "Hauptstadtbuch" des Verbrecher Verlages dieses Gefühl, dass die Wiedervereinigung schuld an allem Unbill sei, so: "Dann komme Ossis. Ich mein: Was suche hier? Wer Ossis hat reinlassen? Müsse jeder bleibe, wo er ist, sonst nur Problem."
Und tatsächlich, hätte man 1989/90 Repräsentanten der westdeutschen Einwanderer zu den Zwei-plus-Vier-Verhandlungen über die deutsche Einheit hinzugezogen und diese mit einem Vetorecht ausgestattet, die Volkskammer würde, jede Wette, noch heute tagen.
Dass Menschen, die selbst gerade erst irgendwo eingewandert sind, nach ihnen Kommende lieber draußen wissen möchten, mag skurril erscheinen, ist aber ein Klassiker der Migrationsgeschichte; man denke nur an das Verhältnis von irischen und italienischen Einwanderern in den USA.
Und dass die Ossis sich selbst niemals als Allochthone, sondern als Autochthone begriffen ("Wir sind ein Volk!"), macht die Sache nur für Außenstehende komplizierter, nicht für die Deutschtürken. Für sie waren die Ossis störende Ausländer.
Die Aversion beruht natürlich auf Gegenseitigkeit. Aufgewachsen in der DDR, die ihren "Vertragsarbeitern" aus "Bruderstaaten" wie Vietnam oder Angola nur einen befristeten Aufenthalt gewährte, sie kasernierte und ihnen Kontakte zur einheimischen Bevölkerung vorenthielt, waren die Ossis nach der Wiedervereinigung einigermaßen verdutzt. Sie wollten sich mit ihren "Brüdern und Schwestern" wiedervereinigen, nicht mit irgendwelchen Ausländern.
Obwohl Studenten, Fachkräfte, Asylbewerber und sonstige Einwanderer in einigen ostdeutschen Städten heute zehn Prozent der Bevölkerung ausmachen, wirkt das xenophobe Erbe der DDR noch nach - und das mitnichten nur in den No-go-Areas.
Studien zeigen, dass bis zu 41 Prozent der Ostdeutschen ausländerfeindliche Ansichten haben (und in einem noch größeren Ausmaß die DDR verklären, was wiederum hervorragend mit der BRD-Verklärung der Einwanderer korrespondiert).
Eine, die es wissen muss, nämlich Antje Hermenau, die Vorsitzende der grünen Landtagsfraktion in Sachsen, schrieb im vergangenen Jahr in der taz: "Auch zwanzig Jahre nach der Wende gibt es ausreichend Anzeichen, dass die Vorstellung, Migrantinnen und Migranten seien nicht Teil dieser Gesellschaft, sondern eine Gruppe von ,Besuchern', auch weiterhin verbreitet ist."
Die Monikas aus Ostberlin
Der zweite Grund, weshalb ältere Deutschtürken den Geschmack an Deutschland verloren haben, hat mit dem Euro zu tun. Niemand trauert so um die verblichene D-Mark wie die Deutschtürken - außer vielleicht die Ossis. Kein Wunder, war doch die D-Mark der eigentliche Grund, weshalb sie, Türken wie Ossis, überhaupt herkamen.
Überhaupt das Geld. Mögen viele in Ostdeutschland - neuerdings mit tatkräftiger Unterstützung durch Thilo Sarrazin - der Ansicht sein, der deutsche Staat füttere mit den Ausländern zu viele unnütze Esser durch, sind viele westdeutsche Deutschtürken der umgekehrten Auffassung. Mit dem Solidaritätszuschlag, den man ihnen seit zwanzig Jahren abknöpft, alimentierten sie die Faulpelze im Osten.
Als mich kürzlich meine Eltern besuchten, schlug ich ihnen vor, ein Kurbad im Brandenburgischen zu besuchen. Ich musste dafür ihre Sicherheitsbedenken ausräumen. Die Fahrt dorthin erlebten sie als Wechselbad der Gefühle - zwischen staunen ("So saubere Autobahnen, alles dreispurig, wow!" ) und nörgeln ("Das haben wir alles bezahlt!").
Über gegenseitige Vorurteile hinweghelfen könnten natürlich zwischenmenschliche Beziehungen. Die schönsten Integrationskurse sind zweifelsohne jene, die auf den Satz folgen: "Baby, ich will dich integrieren!"
Doch so selten schon Ehen zwischen Westdeutschen und Türken sind, so rar sind sie zwischen Türken und Ossis. Wo sollte man sich auch kennen lernen? Rübergemacht haben nur ein paar wagemutige Betreiber von Dönerimbissen.
Einer von ihnen war T., ein einst militanter Linksradikaler, der nach dem Putsch von 1980 nach Westberlin kam. Mitte der neunziger Jahre eröffnete er in einer brandenburgischen Kleinstadt einen Imbiss. "Das war schon merkwürdig", erinnert er sich, "die wollten immer ihren Döner komplett, saßen in meinem Laden und zogen über die Ausländer her. Ohne dass ich mich groß eingemischt hätte, rief mir manchmal einer zu: ,Keine Angst, dich meinen wir nicht, du bist in Ordnung und dein Döner auch.'"
Seinen Laden gab T. dennoch auf - nachdem der vierte Dönerladen aufgemacht hatte, lohnte es nicht mehr. Heute arbeitet er als leitender Angestellter einer Dönerproduktionsfirma, die ihren Sitz von Berlin nach Brandenburg verlegt hat und von dort sogar Hotels in der Türkei beliefert.
"Den deutschen Touristen schmeckt der türkische Döner nicht, sie wollen unseren", erklärt er. Die Chefs in dem mittelständischen Betrieb sind Türken, die einfachen Arbeiter Deutsche und Polen. "Auf der Arbeit ist es okay", erzählt T., "aber mehr haben wir nicht miteinander zu tun, die Deutschen wohnen alle in der Umgebung, die Türken in Berlin."
Übrigens: Das Verhältnis war nicht immer so schlecht, zumindest nicht in Berlin. Früher, als alles nicht nur anders, sondern natürlich auch besser war, fuhren türkische, aber auch jugoslawische oder griechische Westberliner gerne mal nach Ostberlin.
"Wir mussten zwanzig D-Mark zwangsumtauschen, aber mit zwanzig Mark warst du dort König", erzählt A., der Mitte der sechziger Jahre nach Westberlin kam und hier auf dem Bau arbeitete.
"Wir fuhren regelmäßig rüber, haben dort gefeiert und getrunken, und schon bald hatte jeder von uns eine Freundin. Weißt du, in Westberlin wollten die deutschen Frauen nichts mit uns zu tun haben, aber die Monikas im Osten waren anders."
Nach einer Pause fügt er hinzu: "Vielleicht auch, weil wir ihnen Marlboros, Milka-Schokolade und Jacobs-Kaffee mitbrachten, so, wie wir es von unseren Urlauben in der Türkei gewohnt waren." Einige verheiratete Westberliner Gastarbeiter haben im Osten sogar eine Zweitfamilie unterhalten. "Als die Mauer verschwand, flog dieses Doppelleben natürlich auf." Aber das ist eine andere Geschichte.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
Scholz und Pistorius
Journalismus oder Pferdewette?
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen