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Ein Jahr #MeTooDie dunkle Seite der Debatte

Trotz der Kritik von allen Seiten ist #MeToo keineswegs gescheitert. Aber das ist kein Grund, sich nicht offen mit der Kritik auseinanderzusetzen.

Über männliche Täter, aber auch über männliche Opfer und weibliche Täterinnen müssen wir sprechen Foto: unsplash/Hunters Race

Vor Kurzem saß ich in einer Call-in-Sendung des WDR. Direkt die erste Anruferin beschimpfte mich, dass #MeToo eine „widerliche Schmuddelkampagne“ sei, „eine Mischung aus mittelalterlichem Pranger und Selbstjustiz“.

Vor Kurzem saß ich auf einem Podium mit Svenja Flaßpöhler, um mit ihr über ihr Buch „Die Potente Frau“ zu sprechen, in dem sie erklärt, dass #MeToo auf sexuelle Frauenbilder – und Männerbilder – aus dem 19. Jahrhundert zurückgreift.

Vor Kurzem bekam ich eine Mail von einem Männerrechtler: „Es gibt mittlerweile sechs Menschen, die sich infolge von #MeToo umgebracht haben, warum bleibt das in der feministischen Debatte weitgehend unerwähnt?“

Was antwortet man darauf? Lasst uns reden!

Denn zumindest an ein paar Punkten stimme ich ja mit der Kritik der Anruferin in der WDR-Sendung überein. Zum Beispiel, dass in der öffentlichen Debatte eine Weile lang über Diskriminierung nur noch gesprochen wurde, wenn es sich um sexuelle Grenzüberschreitungen handelte.

Interne Kritik ist wichtig

„Eine von fünf Frauen erfährt am Arbeitsplatz sexuelle Belästigung.“ Was schließen wir daraus? Dass Frauen besser zu Hause bleiben sollen? Wohl kaum! Doch als ich das sagte, schnitt mir die Anruferin wütend das Wort ab: „Nein, also oh-oh, ich möchte diese #MeToo Debatte überhaupt nicht haben!“

Wann hat sich unsere Debattenkultur dahingehend gewandelt, dass wir nur noch einer Meinung sein dürfen? Dass Kritik bedeutet, die gesamte Sache abzulehnen?

Genauso bekam ich vor der Veranstaltung mit Svenja Flaßpöhler besorgte Mails, wie ich nur mit ihr diskutieren könne. Und im Nachhinein weiß ich nicht, ob ich es besonders gut gemacht habe. Denn – Überraschung, Überraschung – auch ich habe nicht gelernt, Kritik wertschätzend zu äußern.

Dabei finde ich eine interne Kritik von #MeToo wichtig. Eine Kritik, die nicht sagt: Weg damit. Eine Kritik, die berücksichtigt, dass etwas nicht perfekt sein muss, um wichtig zu sein. Weil wir ansonsten niemals mit irgendetwas anfangen würden.

Sprechen als erster Schritt

Denn das Problem, das Flaßpöhler sieht, ist ja da: Sobald wir über sexuelle Grenzüberschreitungen sprechen, sprechen wir von Frauen als passiven Opfern und Männern als aggressiven Tätern – und zementieren dadurch Geschlechterrollen, die wir doch eigentlich verändern wollen. Bloß hat das nicht #MeToo erfunden.

Auch Artikel von Autor*innen, die ich keineswegs als Feministen wahrnehme (aber wer weiß, ich bin ja nicht die Gatekeeperin des Feminismus), reproduzieren ein Geschlechterszenario mit zitternden Maiden und ständig erigierten Penismännern. Was also tun? Aufhören über Grenzüberschreitungen zu reden? Oder stattdessen lieber die Art, wie wir das machen, überdenken?

„Aber #MeToo bricht doch die Passivität gerade dadurch auf, dass Frauen aktiv anklagen, was ihnen passiert“, lautet eines der häufigsten Argumente gegen Flaßpöhler. Da ist etwas dran. Allerdings ist das nur der erste Schritt. Eine befreundete Psychologin bekam einen Shitstorm, nachdem sie sagte, ihr Ziel sei, Menschen, die mit #MeToo Erlebnissen zu ihr kommen, vom Erleiden in die Tat zu bringen: „Wir müssen sie zu Täterinnen machen.“

Das ist vielleicht ungeschickt ausgedrückt, doch was sie meinte, war, dass sie mit ihren Patient*innen Handlungsoptionen herausarbeitet. Natürlich, es wäre der Job von Chefs, seine oder ihre Angestellten zu schützen oder gar nicht erst zu belästigen, aber wir alle haben in den meisten Situationen deutlich mehr Möglichkeiten und auch eigene Macht, als wir wissen. Und darüber zu reden verhilft uns zu existenziellen Informationen und ist nicht Victim Blaming. Deshalb darf einem selbstredend trotzdem niemand etwas antun.

Kampf gegen Sexismus ist was für jeden Tag

Und die Geschichten, die wir seit einem Jahr hören, sind ja echt. Sie werden nicht von den Medien erfunden, um die Auflagen oder Klickzahlen mit heißen Sex-Grenzüberschreitungs-Szenen zu erhöhen. Dass wir sie erst jetzt so geballt hören, liegt daran, dass es vorher keinen gesellschaftlichen Raum dafür gab.

Und das ist auch einer der Gründe, warum wir eine so anachronistische Sprache dafür haben: Wir haben nun einmal im Alltag kaum darüber geredet. Vor #MeToo beschränkten sich die Gespräche auf bestimmte Thementage wie den 25. November, an dem Redaktionen dazu aufriefen: Frauen erzählt uns, was euch alles schon passiert ist. Und das war’s.

Der Kampf gegen Sexismus ist nicht nur etwas für den internationalen Tag zur Beseitigung von Gewalt gegen Frauen, sondern für jeden Tag

Dabei ist der Kampf gegen Sexismus nicht nur etwas für den internationalen Tag zur Beseitigung von Gewalt gegen Frauen, sondern für jeden Tag. Und er ist auch nicht nur für Frauen, sondern für alle Geschlechter.

Doch genau damit tun wir uns schwer. Am Anfang von #MeToo habe ich hier in der taz einen Artikel über die Stimmen von männlichen Opfern geschrieben, die es deutlich schwerer hatten, gehört zu werden. Teilweise wurden sie sogar nachdrücklich aufgefordert, den Mund zu halten und lieber den Frauen zuzuhören.

Eine weiterentwickelte Debatte

Das hat sich inzwischen verändert. Der Vorteil, dass die Debatte seit einem Jahr auf den unterschiedlichsten Kanälen geführt wird, ist, dass sie sich weiterentwickelt. Trotzdem lese und höre ich in jedem Bericht zu einem Jahr #MeToo eine Variante der Worte: Vor einem Jahr begannen Frauen massenhaft, die sexuellen Übergriffe auf sie anzuprangern.

Noch größer als unsere Probleme mit männlichen Opfern sind die mit weiblichen Täterinnen oder potenziellen Täterinnen. Die Vorwürfe gegen Asia Argento, den damals 17-jährigen Jimmy Bennett sexuell genötigt zu haben, stellten viele vor ein kognitives Problem. Wie war das möglich? „Seid sanft,“ tweetete Rose McGowan auch wenn sie diesen Tweet später löschte. Niemand tweetete bei Kevin Spacey „Seid sanft.“

Wieder: Was lernen wir daraus? Dass wir jetzt auch bei Anklagen gegen Frauen hart durchgreifen sollen? Oder lieber, dass wir grundsätzlich Vorsicht und Wohlwollen wallten lassen sollten? Es ist nämlich beides möglich: Opfern zu glauben und sie zu unterstützen. Und Angeklagte nicht vorzuverurteilen. Und vor allem darüber zu sprechen, wie wir Systeme so verändern, dass es weniger Übergriffe gibt.

Und damit kommen wir zu dem Elefanten im #MeToo-Raum. Was ist mit den Selbstmorden? Sind die drei Frauen, die den walisische Politiker Carl Sargeant der Belästigung bezichtigten, schuld daran, dass er sich daraufhin das Leben nahm? Oder ist es die Schuld des walisischen First Ministers Carwyn Jones, an den sie sich gewandt hatten und der nicht die Polizei einschaltete, sondern stattdessen Sargeant entließ? Oder ist es direkt die gesamte #MeToo Debatte, durch die das walisische Parlament unter Druck war, möglichst schnell zu handeln?

Das Arbeitsklima entscheidet

Diese Fragen sind falsch und schrecklich. Aber sie zeigen, dass wir darüber reden müssen. Ebenso wie über den Fall des ehemaligen Chefs des Stockholmer Stadttheaters und Ehemanns der Sopranistin Ann Sofie von Otter, Benny Fredriksson. Nachdem die Tageszeitung Aftonbladet #MeToo-Vorwürfe von 40 Frauen druckte, hauptsächlich bezüglich seines „diktatorischen Führungsstils“, trat er von seinem Posten zurück und nahm sich in der Folge das Leben. Sargeant und Fredriksson beteuerten beide bis zum Ende ihre Unschuld.

Auch hier kann die Wahl nicht eine zwischen Verschweigen oder Ausgrenzen sein, sondern zwischen verantwortlichem und angemessenem Handeln versus Sündenböcke suchen. Angesichts der Vorwürfe gegen Sargeant gab es Klagen über das grundsätzliche Klima im walisischen Parlament. Wir wissen, dass Systeme einen massiven Einfluss darauf haben, ob es zu Übergriffen kommt oder nicht.

Je mehr ein Arbeitsklima von Angst und Mobbing geprägt ist, desto mehr Grenzüberschreitungen und natürlich auch sexualisierte Grenzüberschreitungen wird es darin geben
Ein Jahr #MeToo

Die Debatte

Ausgelöst von den veröffentlichten Anschuldigungen gegen den US-Produzenten Harvey Weinstein entstand eine internationale Debatte über sexualisierte Gewalt. Während einige sie als feministische Revolution feiern, kritisieren andere den generellen Umgang mit dem Thema. Doch was ist seit dem 5. Oktober 2017 passiert? Hat sich unsere Gesellschaft in diesem Jahr verändert oder ist alles beim Alten geblieben?

Die Serie

Den Oktober über werden auf dieser Seite und auf taz.de verschiedene Aspekte der Debatte betrachtet.

Je mehr ein Arbeitsklima von Angst und Mobbing geprägt ist, desto mehr Grenzüberschreitungen und natürlich auch sexualisierte Grenzüberschreitungen wird es darin geben. Je menschenfreundlicher und kooperativer ein System ist, desto besser ist es auch dafür ausgerüstet, konstruktive Lösungen für Probleme zu finden. Vielleicht auch für Sargeant und seine Anklägerinnen?

Wenn wir etwas aus #MeToo lernen können, dann dass wir Menschen mit mehr Empathie behandeln sollten. Grundsätzlich!

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3 Kommentare

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  • "Natürlich, es wäre der Job von Chefs, seine oder ihre Angestellten zu schützen ... " - was für ein parternales Bild! Der Chef (nicht die Chefin) behält alle weiblichen Angestellten ständig im Auge und passt auf .... oder wie ist das gemeint? Wenn die vermeintliche Tat bereits geschehen, hat er schon nicht genug aufgepasst?

    Wie soll "der Chef" bei etwaigen Vorwürfen den überhaupt richtig reagieren? Offene Aussprache? Persönliche Ermittlungen? Arbeitsrechtliche Schritte?

    Nein, es funktioniert nur, wenn sich alle Beteiligten an die gebotenen Umgangsformen halten und Grenzüberschreitungen unmittelbar kenntlich machen ... oder es eben lassen (aber dann ohne späteres Nachkarten). Die Mär der vermeintlichen Lähmung des Opfers sollte endlich mal beseitigt werden. Bei Kindesmissbrauch ist das selbstbewußte/selbstsichere Kind schon lange als entscheidender präventiver Faktor anerkannt. Warum fordern wir von erwachsenen Frauen (und Männern) nicht das Gleiche, was wir Kindern zutrauen?

  • „Wann hat sich unsere Debattenkultur dahingehend gewandelt, dass wir nur noch einer Meinung sein dürfen? Dass Kritik bedeutet, die gesamte Sache abzulehnen?“

    Die Antwort ist: Gar nicht. Das, was Mithu Sanyal „Unsere Debattenkultur“ nennt, hat es in Wahrheit nie gegeben. Es gab nur eine Zeit, in der die Meinungsmacher in ihren Blasen noch halbwegs sicher waren vor dem Rest der Welt.

    Die Leute, die einfach nur dagegen waren, gab es immer schon. Sie haben nur früher genau so wenig „[]einen gesellschaftlichen Raum“ zur Verfügung gestellt bekommen wie Frauen, die über sexuelle Übergriffe berichten wollten. Internet und Auflagen-Schwund haben es möglich gemacht: Nun melden sich auch Leute zu Wort, die das Meinung-Haben noch sehr üben müssen. Die, die Meinungen verkaufen wollen, sprechen nämlich inzwischen auch solche Leute direkt an. Bestiality sells.

    Man kann diesen „Sittenverfall“ geißeln und nach Zensur rufen. Muss man aber nicht. Man kann auch sagen: Er hilft der Entwicklung auf die Sprünge. Wer Probleme klarer erkennen muss, kann sie besser angehen – oder vor ihnen flüchten. Die Spreu trennt sich damit vom Weizen. Vor einem Jahr noch hätte Mithu Sanyal vielleicht nicht geschrieben: „Es ist nämlich beides möglich“. Inzwischen kann sie neue Fragen stellen. Zum Beispiel die, „was […] mit den Selbstmorden [ist]“. Nun findet sie sicher auch Antworten.

    Übrigens: Schrecklich ist die Frage nach den Selbstmorden nur, weil die meisten Antworten noch so fürchterlich falsch sind. Viel zu oft geht darum, recht zu haben, nicht darum, etwas zu verändern. Gewissheiten müssen Gewissheiten bleiben. Schließlich: Wie sollte man ohne sie zu seinem Gefolge kommen als Meinung-Führer?

    Je menschenfreundlicher und kooperativer ein System ist, desto besser ist es dafür ausgerüstet, konstruktive Lösungen für Probleme zu finden. Es wird uns nichts anderes übrig bleiben, als Vertrauen zu wagen. Alles andere bringt nur wieder den Untergang.

  • "Wenn wir etwas aus #MeToo lernen können, dann dass wir Menschen mit mehr Empathie behandeln sollten. Grundsätzlich!"

    Welch ein frommer Wunsch. #MeToo, gestartet mit einem wirklich wichtigen und berechtigten Anliegen, hatte von Anfang ein ein gewaltiges Problem: es wurde sofort von vielen gekapert, die das "System Weinstein" überhaupt erst ermöglichten und es über 20 Jahre lang in Betrieb hielten. Jetzt, wo sich der Wind gedreht hat, stellen sie sich auf die vermeintlich richtige Seite, in der Hoffnung, daß ihr Mitwirken übersehen wird. Dies scheint leider sogar zu funktionieren, ändert allerdings nichts an ihrer Mitschuld und stellt #MeToo in ein schlechtes Licht.

    Noch übler wird es aber, wenn #MeToo für politische Zwecke missbraucht wird.

    Da reichen 36 Jahre alte Vorwürfe, die durch absolut nichts belegt sind, sondern im Gegenteil, als nicht glaubwürdig eingestuft wurden beinahe aus, um einen politisch unliebsamen Richter zu verhindern.

    Von derselben Partei, die kürzlich einen ihrer Mitglieder, Keith Ellison, Absolution erteilte.



    Ihm wirft seine Exfreundin häusliche Gewalt vor. Zur Unterstützung ihrer Anschuldigungen legte sie aufgezeichnete Notrufe, ärztliche Befunde und Zeugen, die ihre Aussage tatsächlich unterstützen vor. Die demokratische Partei entschied allerdings, daß dies nicht genug ist, um ein, in Deutschland würde man von einen Parteiausschlußverfahren sprechen zu rechtfertigen. Auch die Anzeigen, die die Exfreundin mehrfach erstattete wurden von den zuständigen Behörden nicht verfolgt. Fadenscheinige Begrünung: Interessenkonflikte innerhalb der Behörden; niemand ist so recht befugt, noch willens zu ermitteln. In diesem Fall gab es keinerlei #BelieveWoman Proteste.

    Anderes Beispiel: Juanita Broaddrick erhebt Vergewaltigungsvorwürfe gegen Bill Clinton. Keine Ahnung ob da was dran ist; aber niemand unterstützt sie bei ihren Ruf nach einer FBI Untersuchung.