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Kontaktsperre wegen „zu großer Nähe“Der Kindeswille zählt nicht

Einer Mutter wird ihr Kind weggenommen und der Vater gibt den Jungen ins Heim. Dort ist er unglücklich, aber zurück zur Mutter darf er auch nicht.

Darf ihren Sohn weiterhin nicht sehen: Mutter Helene* Foto: Miguel Ferraz

Hamburg taz | Seit Weihnachten hat Linos* seine Mutter weder gesehen noch gesprochen. Es gibt eine Kontaktsperre, über die am vergangenen Donnerstag das Amtsgericht Cloppenburg entscheiden musste. Der Junge lebt dort in der Nähe in einem Heim. „Angela, ich halte es nicht mehr in der Einrichtung aus. Ich darf meine Mama nicht sehen, warum ist das so?“, fragt er seine Verfahrensbeiständin bereits nach seiner Anhörung am 19. Juni. „Ich fühle mich eingesperrt, deshalb benehme ich mich so schlecht“, fährt er fort und weint.

Zwei Jahre lebt Linos schon in Heimen. Zunächst in Dithmarschen, dann in Rendsburg, nun im Landkreis Cloppenburg. Seine Mutter hat er zuletzt vor einem Jahr gesehen. „Das war das letzte Mal, dass ich mich richtig wohl gefühlt habe“, vertraut er der Anwältin an. „Meinen Vater darf ich sehen, mit ihm in Urlaub fahren, und, und, und, aber mit meiner Mama darf ich gar nichts machen.“ Das sei nicht gerecht. „Ich möchte unbedingt bei meiner Mama wohnen.“

Jugendamt unterstützte die Mutter

Auch seine Mutter Helene* möchte nichts lieber als das. Sie kämpft seit zweieinhalb Jahren einen erbitterten Kampf gegen Hamburgs Jugendhilfe-Bürokratie. Sie zieht ihren 2004 geboren Sohn allein auf, der Vater darf das Kind sehen, aber sie hatte das Sorgerecht. Immer wieder gibt es belastende Gerichtsverfahren, berichtet sie, da die Familie des Erzeugers an ihrer Kompetenz zweifelt.

Doch das Jugendamt ist an ihrer Seite, und unterstützt sie. Mutter und Sohn „haben einen liebevollen Umgang miteinander und sie kann ihm in der Erziehung sowohl die nötigen Freiräume geben, als auch Grenzen setzen“, schreibt eine Jugendamtsmitarbeiterin im November 2009 in einer Stellungnahme. Der Junge geht in eine Kita, die Wohnung ist sauber und kindgerecht, es gibt kein „Anzeichen für eine Kindeswohlgefährdung“.

Doch 2014, der Junge ist zehn, kommt eine neue Sachbearbeiterin. Linos reagiert auf den Streit der Eltern mit Stress, wird in der Schule auffällig. Auf anraten einer Therapeutin bringt die Mutter ihn zu einer Art Kur in einer Familienklinik in Bayern. Da vollzieht das Jugendamt einen 180-Grad-Schwenk und beantragt im Eilverfahren, dass der Vater das Sorgerecht bekommt. Angeblich existiere eine zu große Nähe, eine Symbiose, zwischen Mutter und Sohn. Er idealisiere seine Mutter, vermische seine eigenen Bedürfnisse mit ihren Wahrnehmungen, müsse lernen sich abzugrenzen, heißt es in einem Schreiben des Jugendamts.

Der Vater beantragt die Unterbringung im Heim

Der Junge lebt nur kurze Zeit beim Vater, dann kommt er im November 2015 das erste Mal ins Heim. Ein Gutachten segnet die Entscheidung ab. Der Junge habe eine Störung, eine mildere Maßnahme als Heimerziehung sei nicht möglich. Der Vater, der das beantragt hat, gilt als voll erziehungsfähig. Die Mutter, die gegen ein Heim ist, nicht.

An dem Gutachten gibt es Zweifel. Zwei Gegengutachten bescheinigen der Mutter keinerlei psychische Auffälligkeit. Trotz eventueller biografischer Belastungen sei die Mutter handlungsfähig und ihre Erziehungsfähigkeit nicht infrage gestellt, schreibt eine Psychologin. Und ein Gerichtspsychiater ergänzt, er könne keine Diagnose auf psychiatrischem oder neurologischem Gebiet feststellen.

Zudem hat die Psychiaterin zum Beispiel keine gemeinsame Interaktion von Mutter und Sohn beobachtet, wie es eigentlich Standard bei familienrechtlichen Gutachten ist. Das merkt Helenes Anwalt Rudolf von Bracken an. Er sagt, es gibt keinen Beleg dafür, dass Linos irgendeine Kindeswohlgefährdung in Obhut oder auch nur in Gegenwart der Mutter erleide. Die gerichtlichen Maßnahmen hätten ihn nicht geschützt, sondern beschädigt. Er kritisiert, dass der Kindeswille nicht beachtet werde und beantragt, dass die Mutter das Sorgerecht zurück erhält.

Beschwerden über Heime wirken sich nachteilig aus

Am Donnerstag kam der Fall nun erneut vor Gericht. Es geht darum, dass Linos seine Mutter sehen darf. Denn seit Januar 2016 gibt es – mit kurzer Unterbrechung von September bis Ende 2016 – ein totales Kontaktverbot zwischen Mutter und Sohn. Der Mutter wird vorgehalten, dass sie das erste Heim in Dithmarschen kritisiert hat – welches übrigens wegen eines restriktiver Methoden und Beschäftigung ehemaliger „Friesenhof“-Mitarbeiter damals auch von Politik und Medien kritisch beäugte wurde.

Sie wandte sich mit Beschwerden, die sie von ihrem Sohn hörte, an die dafür eingerichtete Ombudsstelle Schleswig-Holsteins. Das kam nicht gut an. Sie habe so ein „Ankommen“ des Sohns verhindert, sagt man ihr. Jede Schwierigkeit wurde auf den Einfluss der Mutter zurückgeführt, sagt ihr Anwalt. Sie selbst sagt, ihr seien sogar falsche Zitate in den Mund gelegt worden. Angeblich wolle sie ihr Kind ins Ausland bringen. „Das habe ich aber nie gesagt“, so Helene.

Das Jugendamt erklärt die schiere Existenz der Mutter zum Problem

Rudolf von Bracken, Anwalt

Schließlich erfährt Helene im Sommer aus einem Bericht von Linos' jetziger Schule, dass es ihm auch im dritten Heim im Landkreis Cloppenburg nicht gut geht. Er gelte als sprachlich hochbegabtes Kind, nun drohe eine Sonderbeschulung. Und er soll sogar 20-prozentigen Alkohol zu sich genommen haben, steht im Bericht. „Es geht ihm schlechter denn je“, sagt sie. Und bittet das Jugendamt um ein neues Gutachten durch den Jugendpsychiatrischen Dienst. Die Sachbearbeiterin winkt ab. Erst wenn der Junge sich im Frühjahr 2018 nicht stabilisiert habe, könne sie sich eine neue Planung vorstellen.

Der Prozess am Donnerstag verlief aus Sicht von Anwalt von Bracken enttäuschend. Das Jugendamt habe der Mutter vorgeworfen, dass sie die Trennung nicht akzeptiert habe und das Kind nicht ankommen könne, berichtet er. „Nach über zwei Jahren Kontaktsperre ist der Junge aber immer noch in ihrem Herzen und sie ist in seinem. Man kann das Problem nicht lösen, indem man die Mutter entfernt“, sagt der Anwalt. „Das Jugendamt erklärt die schiere Existenz der Mutter zum Problem.“

1.700 Kinder außerhalb Hamburgs untergebracht

Fälle wie der von Linos sind kein Einzelfall, sie höre häufig von verzweifelten Eltern, sagt die Jugendpolitikerin Sabine Boeddinghaus von der Hamburger Linksfraktion. „Man kann den Eindruck bekommen, dass bei Entscheidungen weniger das Kind eine Rolle spielt, sondern es den Jugendämtern auch um Rechthaben und Machtausübung geht.“ Aus der Antwort auf ihre Große Anfrage an den Senat geht hervor, dass über 1.700 Kinder und Jugendliche in Heimen außerhalb Hamburgs untergebracht sind.

Das Problem: Während in Hamburg über das Kindeswohl in Familien streng gewacht wird, weiß die Verwaltung über auswärtige Heimunterbringung wenig. So ist bei insgesamt 375 Kindern das Besuchsrecht für Eltern und Familie eingeschränkt, ohne dass der Senat die Gründe kennt. Es fehlt auch eine Liste der Kriterien, warum Kinder außerhalb der Stadt untergebracht werden, was ja immerhin die Rückkehr in die Normalität erschwert.

Auch weiß die Stadt nicht, wie viele dieser Kinder nur eine Heimschule besuchen oder wie viele sich selbst verletzen und gegen ihren Willen so weit weg von zu Hause untergebracht sind. „Der Senat gibt die Verantwortung an der Landesgrenze ab“, sagt Boeddinhaus. „Es handelt sich um eine Blackbox.“ Auch müssten die Jugendämter laut Boeddinghaus die Möglichkeit haben, getroffene Entscheidungen zu revidieren.

In Linos‘ Fall hat seine Verfahrensbeiständin nun eine vorsichtige Kontaktanbahnung zur Mutter beantragt, per Brief und Telefon. Ob was draus wird, muss der Richter entscheiden.

*Namen geändert

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9 Kommentare

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Kommentarpause ab 30. Dezember 2024

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  • In meinem Fall ist es sehr ähnlich, nur genau umgekehrt. Die Mutter wollte, dass unsere Tochter ins Heim kommt. Dort wird sie schon seit mehr als drei Jahren festgehalten. Nach 2 Jahren ohne Kontakt will sie mich sehen. Dies wird aber mit allen Tricks seitens der Mutter, des JA und der Einrichtung verhindert. Man scheut sich nicht, meine Tochter vorzuschieben. Was für ein Verbrechen am Kind. Das alles verstößt gegen die EMRK ! Wo bleibt das sog. Kindeswohl ?

  • Wo Macht ist, ist auch Machtmissbrauch. "Der Staat" muss nicht immer "gute Gründe" haben, es reichen auch Gesetze, die sich von den Sadist*innen missbrauchen lassen, die es eben auch in Demokratien gibt. Die Abschiebepraxis bei Migrant*innen bietet da doch auch immer Beispiele.

     

    Und "symbiotische Beziehung" ist kein etabliertes Konzept der international anerkannten psychologischen Forschung, sondern ein Konstrukt der deutschen Therapeut*innen- und Buchautor*innenszene, das höchstens etwas über die Beziehungs- und Bindungsunfähigkeit der Verwender*innen aussagt.

  • Hier fehlen Informationen und das Jugendamt muss Grüne für die Begrenzung der Kontakte der Mutter zum Kind haben - schwerigewichtige. Auf die schnelle kommt es nicht zu solchen Entscheidungen. Und es greift den Leser stark an, wenn er liest, dass ein Kind in einem Heim lebt, während es Mutter und Vater gibt. Das sollte einem aber nicht die Sicht verderben, dass es sehr gute Gründe für diese Entscheidungen gegeben hat und vielleicht noch gibt. Die Frage, ob eine Familie oder ein Kind gänzlich ohne das Amt besser dran gewesen wäre, die stellt sich immer wieder, weil der Staat in diesen Fällen sehr tief eingreift und das immer Konsequenzen hat. Selbst eine kaputte Familie oder schwierige Familienverhältnisse sind m.M. manchmal besser, als Lösungen des Staates.

  • Ich kenne mehrere Fälle, in denen die Mutter trotz einer bekannten, manifesten Psychose das Sorgerecht bekommen hat. Der Vater hatte dagegen trotz bester Voraussetzungen keine Chance vor Gericht.

    Die Kinder sind dann teilweise im Erziehungsheim gelandet.

    Dies voran gestellt würde ich auch denken, das hier nicht das komplette Bild vermittelt wird.

    • @neu_mann:

      Genau wegen solcher aussagen, werden Mütter in Deutschland immer schlechter behandelt, man könnte glauben es handelt sich um Frauenfeinde oder Macht?

  • .. das gute alte Spiel!!

    solange die Jugendamtsmitarbeiterin mit dem Verhalten der Mutter einverstanden ist, darf das Kind bei der Mutter bleiben.

    Neue Mitarbeiterin, andere Meinung und das Kind ist weg.

    Der Vater bekommt das Sorgerecht und schickt das Kind ins Heim. War ihm wohl zu stressig. Aber Hauptsache, er hat Recht gehabt. Traumatisierung von Kind und Mutter sind Kollateralschäden.

    Wie kann die Meinung EINER Jugendamtsmitarbeiterin so ausschlaggebend sein, dass ein normal entwickeltes Kind innerhalb von 2 Jahren auf eine Sonderschule mus.

     

    Wenn man RichterInnen und Gutachter für 15-20 Jahre für die Folgen der Urteile bzw. Gutachten haftbar machen würde, dann würden diese sich innerhalb kürzester Zeit ändern.

    Der Mutter wünsche ich viel Kraft, viel Unterstützung. Sie sind leider nicht die Erste der das in Deutschland passiert (Grünerin der Mütterlobby Berlin, sie hat ihre Kinder wiederbekommen) und Sie werden leider auch nicht die Letzte sein!

  • Der Artikel spricht ein Grundproblem an, sagt aber zu dem beschriebenen Einzelfall nur wenig aus, weil jede Menge weiterer Details schon aus Platzgründen nicht enthalten sind.

     

    Tatsächlich ist es so, das Menschen gelegentlich Fehler machen, und auch Miterarbeiter der Jugendämter sind nicht davon ausgenommen.

     

    Stellt aber irgendwann ein Gericht grobe Fehler eines Jugendamtsmitarbeiters fest, dann wird damit diesem quasi per Gerichtsentscheid grobe fachliche Inkompetenz bescheinigt, was mindestens ein ernsthaftes Beförderungshindernis sein kann.

     

    Bereits aus solchen Gründen verlieren in derartigen Fällen Beteuerungen "zum Wohle des Kindes" ganz erheblich an Wert, und gleichzeitig ist eine sehr hohe Wahrscheinlichkeit zu vermuten, daß es seitens betroffener Jugendamtmitarbeiter lediglich noch darum gehen könnte, mittels "recht haben um jeden Preis" spätere Beförderungschancen zu erhalten.

     

    Ebenso ist durchaus anzunehmen, daß auch ein Jugendamt insgesamt gar kein Interesse daran hat, wegen eines schweren Fehlers einer der Mitarbeiter in der Öffentlichkeit als Ganzes in Verruf zu geraten.

     

    Ähnliche Wirkmechnismen sind sicher auch innerhalb der Gerichte zumindest als unbewußte Komponente anzunehmen, so daß nicht auszuschließen ist, daß ein einmal ganz am Anfang ergangener Beschluß auch betont "kollegial" äußerst hartnäckig verteidigt wird, stets mit der Begründung "zum Wohle des Kindes".

  • Es ist schwer, aus dem Artikel alle Fakten herauszulesen. Es scheint aber, dass hauptsächlich darüber berichtet wird, was für die Sicht der Mutter spricht. Ich kann mir schwer vorstellen, dass die Übertragung des Sorgerechtes auf die Mutter so grundlos war! Ja es gibt Fälle von krassen Fehlentscheidungen von Jugendämtern. Mich würde aber auch interessieren, warum die Richter in mehreren Verfahren gegen die Mutter entschieden. Es waren wahrscheinlich verschiedene Richter, die jeweils ein Urteil sprachen.

  • Ja, genauso funktioniert westdeutsche Jugendhilfe. Wenn's nicht gleich Unterbringung im Ausland und Maseratis* für die "Helfer" sind (*realer Fall in der Jugendhilfe in Westberlin)