Debatte Zukunft der Demokratie: Das beste Deutschland aller Zeiten
Schluss mit der Larmoyanz! Wenn wir etwas bewegen wollen, müssen wir akzeptieren, was wir erreicht haben. Denn früher war das meiste schlechter.
I st es nicht an der Zeit, all das zu feiern, was wir sind? Nun, da es genug Feinde unserer freien Gesellschaft gibt, genug Widersacher der Demokratie und Verächter der Vielfalt? Wenn Neurechte Europa als untergehendes Abendland verpönen und Rassisten unsere Regierung als Zerstörerin des deutschen Volkes ausrufen; wenn Marine Le Pen Liberalität und französische Toleranz als den dünkelhaften Habitus einer intellektuellen Elite präsentiert: Müssen wir dann nicht für diese offene Gesellschaft Partei ergreifen – und zwar wortwörtlich?
Wenn die Revolutionsphrasen von jenen beschworen werden, die Anderssein hassen und Pluralität zerstören wollen, dann lasst uns auf diese Rhetorik verzichten. Die radikale Systemkritik haben die anderen übernommen. Und zwar zu Recht. Rassisten haben allen Grund, sich unwohl zu fühlen, Liebhaber patriarchalischer Strukturen wollen diese Welt nicht mehr.
Denn stark sind die Feministen, die Kämpferinnen für Frieden und Toleranz, die Regenbogenkinder, die Freunde der Freiheit. Trump als Symbol für die alten Welten und als Polarstern in den Seelenlandschaften weißer Hassprediger hat uns in Erinnerung gerufen, wie weit wir eigentlich gekommen sind. Denn tatsächlich gab es früher nicht weniger seinesgleichen. Doch anders als früher sind solche Figuren für jede anständige Bürgerin zum Skandal geworden.
Systemfrage ohne Gedöns
Lange genug haben wir geklagt. Es war eine Lust, den Untergang zu beschwören, Trübsal zu blasen und antibürgerlichen Strafpredigten zu lauschen. Jede Kritik barg den Hinweis auf die Apokalypse, der Verfall lauerte überall: im Freihandel, im Nationalen, im Globalen, in Europa, im Grenzregime; im Chlorhühnchen ebenso wie in der Kindererziehung, der Kleidung und im Staatsapparat sowieso.
Let’s face it: Es sind Gesellschaften entstanden, die gut sind, besser als alles, was wir je zuvor hatten; nicht nur in Deutschland. Die Frage kann natürlich nicht sein, ob wir den Zustand der Glückseligkeit bereits erreicht haben. Das ist nicht der Fall; noch immer gibt es zu viel Antisemitismus, zu viel Rassismus, zu viel Armut, Menschen mit anderer Hautfarbe haben weniger Chancen, wir tun nicht genug für die Umwelt, verkaufen zu viele Waffen und investieren zu wenig in den Frieden. Die Frage ist, ob die Richtung stimmt.
Eine Person, die das „System“ kritisiert, muss logischerweise eine Untergangsgeschichte erzählen. Sie muss nachweisen, dass es früher besser war und heute schlechter ist. Und das ist ausgesprochen schwierig. Die Konturen vergangener Glorie verschwimmen bei genauerem Hinsehen. Wer beispielsweise meint, unsere Demokratie sei nur noch eine Scheinveranstaltung, behauptet, sie sei früher echter und besser gewesen.
Doch wann soll das gewesen sein? Als in den USA noch Apartheid herrschte? Als in Europa toughe Jungs das Presseleben und das Parlament allein unter sich ausmachten? Als Altnazis in Deutschland hohe Posten innehatten und Generäle mit kolonialem Prunk in Frankreich und Großbritannien ungestört verehrt wurden? Als die Gesetzgeber schlicht nicht verstanden, was denn das bitte schön für ein Straftatbestand sein solle: Vergewaltigung in der Ehe. Als liebende Eltern ihre Kinder unter freundlichem Nicken der Nachbarn durchprügelten? Als ein Hausmann noch nicht als Held und Verheißung galt, sondern als ein Unglück und Störfall?
Die Gewalt nimmt ab
Auch wenn es nicht in unsere Metaerzählung passt und sich der Gestus der Larmoyanz so schwer verabschiedet: Die Zeiten werden besser. Der Oxforder Ökonom Max Roser sammelt auf seiner Homepage „Our World in Data“ ein erstaunliches Wissen über den globalen Aufwärtstrend – und kritisiert die Ignoranz der Medien gegenüber diesen Prozessen. Nicht nur im nordatlantischen Raum, sondern überall entwickeln sich die Dinge zum Guten: Die Gewalt nimmt ab (aller intensiven Berichterstattung über jeden Konflikt zum Trotz), die Alphabetisierung expandiert, die Zahl der Armen ist weltweit gesunken, sowohl proportional als auch absolut.
Wenn wir der Ansicht sind, dass abnehmende Kindersterblichkeit gut ist und Hunger schlecht, wenn wir die Ausbreitung von Frauenrechten und die Eindämmung von Krankheiten begrüßen: Müssen wir dann nicht akzeptieren, dass die Systemfrage nicht mit revolutionärem Gedöns gestellt werden sollte? Unsere Demokratien verdienen unser zupackendes Wohlwollen, nicht weil sie das Paradies bedeuten, sondern weil ihre Logik Kritik ermuntert und für Verbesserungen offen ist.
Wir müssen tapfer sein
Ja, die Ungleichheit nimmt innerhalb einzelner Länder zu, aber sie sinkt im globalen Maßstab – und die Tatsache, dass immer mehr der Ärmsten in Würde leben können, ist wesentlich wichtiger als der Umstand, dass die Superreichen sich immer mehr Jachten und Juwelen leisten können. Auch die Umweltzerstörung ist ein gewaltiges Problem, aber effektive Änderungen werden durch demokratische Reformprozesse erzielt, nicht durch apokalyptische Blockade-Mentalitäten.
Wir müssen für diesen Gesinnungswandel tapfer sein. Zustimmung ist nun mal unattraktiv – so wie all die braven Parteien mit ihrem biederen Personal. Sie gilt es zu wählen, um die Rechtsextremen zu schwächen und unsere Vielfalt zu stärken. Die moralisch versnobte Wahlabstinenz ist sinnlos wie eh und je. (Und sitzen wir in Sachen Spießigkeit nicht ohnehin immer alle irgendwie im Glashaus?)
Best of Wahlkampf
Der vermummte junge Mann, der ausholt, um den Stein zu werfen, um anzuklagen und um zu zerstören – er war lang genug die globale Ikone der Linken. Die neue Welt ist weiblicher: Die neue Ikone zeigt die junge Frau, die sich lesend über ihr Tablet beugt: ein Mädchen mit Kopftuch, mit Afro, mit Zöpfen, however; sie soll die Welt erobern, ohne Gewalt, ohne narzisstische Coolness und ohne eitle Freude an der Revolution. Wir sollten sie unterstützen. Sie hat unsere Gesellschaft mit ihrer Klugheit schon in weiten Teilen übernommen, aber sie hat noch viel zu tun.
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