Offene Fragen zum G20-Gipfel: Was war da los?

Fragen, die zum G20-Gipfel noch offen sind. Es gibt einige Antworten – und Vieles, was noch im Dunkeln liegt.

eine Frau steht vor einem Wasserwerfer und macht riesige Seifenblasen

Das war die eine Seite der Proteste gegen den G20-Gipfel Foto: dpa

Warum waren Polizeieinheiten am Freitagabend weder im Schulterblatt noch in der Schanzenstraße stark präsent, bevor die Ausschreitungen begannen?

Das ist eine der zentralen Fragen, die noch unbeantwortet sind. Die Polizei und die Hamburger Innenbehörde haben bisher keine schlüssige Antwort geliefert. Wahrscheinlich ist, dass die Polizei buchstäblich mit ihren Kräften am Ende war. Während die meisten BeamtInnen die Abendveranstaltung der Staatsgäste in der Elbphilharmonie sowie die Messehallen sichern mussten, weigerten sich andere Einheiten, ins Schanzenviertel zu gehen. Aus ihrer Sicht bestand Lebensgefahr.

Warum ist die Polizei, als die Ausschreitungen schon begonnen hatten, nicht über Seitenstraßen in die Schanze gegangen?

Der Hamburger Polizeipräsident Ralf Meyer behauptet im Spiegel, das habe sie versucht – allerdings erfolglos. Die Einheiten seien massiv angegriffen worden, auch von den Dächern, sodass sie sich zurückziehen mussten. Von unseren KorrespondentInnen vor Ort kann das allerdings niemand bestätigen.

Welche Gegenstände wurden am Freitagabend auf Dächern oder in Häusern sichergestellt?

Das Beweismittel, das die Polizei bisher präsentiert hat, ist mager: Nur eine Stahlkugel von der Größe einer Murmel konnte die Polizei auf einer Pressekonferenz vorzeigen.

Wurden Molotowcocktails gefunden?

Nein. Die Polizei hat Wärmebildaufnahmen vorgelegt, auf denen sie einen Molotowcocktail erkennen will, der vom Dach im Schulterblatt 1 auf einen Wasserwerfer fällt, ohne zu explodieren. Nach Einschätzungen von Wärmebildexperten sprechen verschiedene Indizien dagegen, dass es sich um einen Molotowcocktail handelt. Es sei vielmehr ein Böller.

Weshalb wurde das mit Maschinenpistolen bewaffnete SEK eingesetzt?

Offizielle Begründung: Von mehreren Dächern seien Gegenstände geworfen worden, Beamte deshalb in Lebensgefahr gewesen. Allerdings standen auch den SEK-Beamten, die mit Sturmgewehren in die Häuser eindrangen, keine besseren Mittel gegen von oben geworfene Gegenstände zur Verfügung als anderen Polizeieinheiten. Zudem wurden bei früheren Einsätzen ähnlich massive Bewürfe von Dächern mit Polizeieinheiten geklärt, die keine Maschinenpistolen dabei hatten.

Hat das SEK Türen aufgeschossen?

Sven Mewes, SEK-Kommandoführer, gibt an, das SEK habe Türen in den von ihm geräumten Häusern mit „Schusswaffen mit spezieller Munition“ geöffnet. Nicht beantwortet ist, welche Munition das ist, wie sie wirkt und wie hoch das Risiko war, hinter der Tür befindliche Menschen tödlich zu treffen. Unklar ist auch, warum die Türen nicht ohne Schusswaffeneinsatz geöffnet werden konnten.

Wie viele Zivilbeamte waren insgesamt im Einsatz?

Wie viele es waren, ist bislang nicht bekannt – aber es dürften etliche gewesen sein. So bestätigte die Chefin der Thüringer Bereitschaftspolizei, Heike Langguth, auf einer Pressekonferenz am Montag nach dem Gipfel den Einsatz „ziviler Tatbeobachter“, die sich auch unter die Protestierenden gemischt haben. Konkret berichtete sie von einem getarnten Thüringer Beamten, dem es zu verdanken sei, dass sechs mutmaßliche Straftäter in Gewahrsam genommen worden wären. Der Beamte selbst sei schließlich von seinen eigenen Kollegen zum Schein einer „polizeilichen Maßnahme“ unterzogen worden, damit seine Tarnung nicht auffliegt. Bedrohlich: Nach Angaben der Hamburger Polizei gaben sowohl am Freitagabend als auch am frühen Sonntagmorgen Zivilpolizisten jeweils einen Warnschuss ab – einmal im Schanzenviertel, das andere Mal in der Nähe der Sternenbrücke. Über den Schusswaffeneinsatz auf der Schanze machte die Polizei dabei zunächst via Twitter falsche Angaben.

Waren auch verdeckte Ermittler im Einsatz?

Zu aktuellen Einsätzen verdeckt ermittelnder BeamtInnen, die unter falscher Identität ein Doppelleben in der Szene führen, sagt die Polizei grundsätzlich nichts. In den letzten zweieinhalb Jahren wurden in Hamburg vier verdeckte ErmittlerInnen durch linke Recherchegruppen enttarnt und die Einsätze von Gerichten zum Teil als rechtswidrig erklärt. Besonders umstritten ist es, wenn verdeckte PolizistInnen selbst Straftaten anzetteln. Auf die Frage, ob im Vorfeld des G20-Gipfels besonders viele eingesetzt würden, hatte Innensenator Andy Grote der taz gesagt: „Wir haben schon genug.“

Warum hält Hamburg noch an Einsätzen mit Wasserwerfern fest?

Die Berliner Polizei hat Krawalle wie die am 1. Mai weitgehend unter Kontrolle bekommen, seitdem sie statt auf Wasserwerfer auf Beweissicherungs- und Festnahmeeinheiten setzt, die Demos eng begleiten und Straftäter gezielt aus der Menge holen. Hamburg setzt dennoch seit Jahren auf Wasserwerfer bei Krawallen, obwohl friedliche und unfriedliche Demonstranten so zusammengetrieben, statt auseinanderdividiert werden und Steinewerfer nicht strafrechtlich verfolgt werden können.

Warum hat die Polizei die Demo durch Altona am Freitagmorgen nicht begleitet, bei der zahlreiche Autos angezündet wurden?

Nach Angaben des Hamburger Polizeipräsidenten Ralf Meyer sollen die etwa 100 vermummten Randalierer aus einem Camp im Hamburger Volkspark gekommen sein. Die Verwüs­tungsroute vom Volkspark bis in die Neue Große Bergstraße ist fast neun Kilometer lang. Dass die Polizei die zerstörungswütige Gruppe nicht begleitet und von ihren Taten abgehalten hat, dürfte mit ihrer Prioritätensetzung zu tun gehabt haben. ­Polizeichef Meyer sagt dazu: „Wir haben uns in dieser Phase konzentriert auf den Korridor, den wir durch eine Allgemeinverfügung gesichert haben, um dort die Anreise für die Gipfelteilnehmer zu ermöglichen.“

Hatte der Schutz des Gipfels Vorrang gegenüber dem Schutz der Stadt?

Hamburgs Bürgermeister Olaf Scholz bestreitet das. „Es ging niemals darum, dem Schutz der Gipfelteilnehmer eine größere Bedeutung beizumessen als dem Schutz der Bevölkerung“, sagte sein Sprecher dem Spiegel. Ein internes Polizeidokument weckt daran allerdings Zweifel. So ist im „Rahmenbefehl“ der Besonderen Aufbauorganisation „Michel“ zum Polizeieinsatz rund um den Gipfel zu lesen: „Der Schutz und die Sicherheit der Gäste haben höchste Priorität.“

Wie viele PolizistInnen waren so schwer verletzt, dass sie am nächsten Tag nicht einsatzfähig waren?

Die Polizei gibt an, dass vom 22. Juni bis zum 9. Juli insgesamt 476 BeamtInnen verletzt wurden. Laut Recherchen des Medienportals Buzzfeed jedoch ist nach Anfragen an die Polizeilandesbehörden und die Bundespolizei klar, dass sich über die Hälfte der PolizistInnen bereits vor der „heißen Phase“ krankgemeldet hatte. Übrig blieben 231 BeamtInnen, die während der Proteste verletzt wurden. Zu ihren Verletzungen zählt die Polizei auch Kreislaufprobleme oder Verletzungen durch eigenes Pfefferspray. 21 BeamtInnen seien so schwer verletzt gewesen, dass sie am nächsten Tag nicht wieder voll einsatzfähig waren, so Buzzfeed.

Wie viele verletzte DemonstrantInnen gab es?

Es gibt keine zentrale Stelle, die eine Statistik darüber führt. Nach Angaben der Hamburger Krankenhäuser wurden 189 Personen mit „demonstrationstypischen Verletzungen“ stationär behandelt. Die Gesamtzahl der Verletzten dürfte aber deutlich darüber liegen. Unter „demonstrationstypischen Verletzungen“ versteht man Knochenbrüche, Prellungen, Platzwunden oder Schnitte. Ein Sprecher des Asklepios-Klinik-Konzerns sagte, an Knochenbrüchen sei „alles dabei gewesen, was man sich so brechen kann – Knie, Schulter, Beckenring, Rippen, Handgelenke“.

Wie viele Demonstrant*innen sitzen noch in U-Haft?

Das können weder Staatsanwaltschaft noch Gerichtssprecher sagen. Der letzte Stand von vergangenem Dienstag ist, dass 51 Menschen wegen Verdachts auf Landfriedensbruch, gefährliche Körperverletzung oder versuchte gefährliche Körperverletzung und Sachbeschädigung einsitzen. Mittlerweile sind einige von ihnen laut Staatsanwaltschaft aber wieder entlassen – wie viele, ist unklar.

Waren Rechtsextreme bei den Krawallen dabei?

Am Freitag sollen bei den Ausschreitungen in der Schanze Rechtsextreme mitgemacht haben, entsprechende Sprüche und Parolen wurden gehört. Aus dem Spektrum der „Hooligans gegen Salafisten“ kam es in der Nacht zu Sonntag nach Zeugenaussagen vor Ort auf Angriffe auf als links ausgemachte Jugendliche. Die rund 20 Rechten sollen auch versucht haben, die Kneipe „Onkel Otto“ in der Hafenstraße anzugreifen. Über Twitter wurde vor Rechten in der Gesa gewarnt. Die Polizei bestätigte bisher nicht, dass auch Rechte festgenommen wurden.

Pascal Beucker, Martin Reeh, Katharina Schipkowski, Andreas Speit

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