Moshe Zimmermannn zum 6-Tage-Krieg: „Grenzen hätten keine Bedeutung“
Eine Lösung muss nicht unbedingt zwei abgegrenzte Territorien bedeuten – und die Feindschaft von Juden und Arabern ist nicht ewig, sagt Moshe Zimmermann.
taz: Herr Zimmermann, am Wochenende gab es in Tel Aviv eine Demonstration gegen die Besatzung. Einer der Sprecher war der Oppositionschef Jitzchak Herzog, und selbst der hält einen Frieden in den kommenden zehn Jahren nicht für realistisch. Glauben Sie, dass Israelis und Palästinenser im Jahr 2027 das 60. Jubiläum der Besatzung markieren werden?
Moshe Zimmermann: Wenn die israelische Politik so weitermacht wie bisher, und daran kann Herzog nichts ändern, dann wird das so sein. Das Einzige, was zu einem abrupten Ende der Besatzung führen könnte, ist ein Krieg oder eine überregionale Krise, aber so etwas lässt sich nicht absehen.
Es tauchen jüngst Alternativmodelle zur Zweistaatenlösung auf. Da ist von einer Heimat in zwei Staaten ohne Grenzen die Rede. Sind das Hirngespinste oder können Juden, Muslime und Christen zusammenleben in einer großen Oase des Friedens?
Erstens ist dieser Ansatz von drei Religionen, Juden, Christen und Muslime, völlig falsch. Es geht hier um zwei Nationen, zwei Völker, Palästinenser und Israelis. Die Frage ist, wie diese beiden Nationen in Zukunft miteinander leben können. Da gibt es die realistische Perspektive, dass Israel die Besatzung aufrechterhält. Der Knesset-Abgeordnete Bezalel Smotrich (Das Jüdische Heim) hat das so formuliert. „Es gibt für die Palästinenser drei Möglichkeiten: 1. sich unterzuordnen mit weniger Rechten, 2. auszuwandern oder 3. sich zu wehren. Sollten sie sich für den Widerstand entscheiden, dann weiß Israel, wie man damit umgeht.“ Das ist, was die Mehrheit in der Regierung denkt.
Es gibt aber andere Modelle, wie die seit 1947 angestrebten zwei Staaten. Je länger die Besatzung dauert, umso unmöglicher wird aber die Umsetzung dieser Idee, weil territorial die Grenzen komplett verwischt sind. Die Zweistaatenlösung, von der wir immer sprechen, ist heute problematischer als 1947, 1967 und sogar noch 1993, als sich zum ersten Mal die beide Konfliktparteien gemeinsam dafür aussprachen. Deshalb muss man neue Modelle entwickeln und über zwei Staaten in einer anderen Formation nachdenken. Das heißt, es geht nicht so sehr um das Territorium, sondern um die Zustimmung zur Idee von zwei Staaten mit zwei Regierungen.
Wie würde diese territoriale Flexibilität aussehen?
Historiker und Experte für deutsch-jüdische Geschichte und Antisemitismus.
Zimmermann ist 1943 als Sohn jüdischer Immigranten aus Deutschland in Jerusalem zur Welt gekommen, wo er an der Hebräischen Universität promovierte und ab 1982 Professor für Neuere Geschichte war.
Später leitete er das Koebner-Institut für deutsche Geschichte und war immer wieder auch als Gastprofessor an deutschen Universitäten tätig.
***
Zimmermann ist in Israel als entschiedener Gegner der Besatzung bekannt.
***
2004 wurde er mit dem Theodor-Lessing-Preis für aufklärerisches Handeln ausgezeichnet. Zimmermann ging vor fünf Jahren in den Ruhestand und lebt seither in Tel Aviv.
Es bedeutet, dass eine jüdische Siedlung auf palästinensischem Territorium zu Israel gehören würde, wenigstens juristisch, und Araber, die in Israel wohnen, wenn sie das wollen, sich zu den Palästinensern zählen können.
Mit offenen Grenzen?
Bei so einer Regelung bedeuten die Grenzen nichts mehr. Wir stellen uns als Grenze immer die Mauer vor, die Israel und die palästinensischen Gebiete voneinander trennt. Meine Idee war schon vor 20 Jahren, zuallererst im Prinzip zu einer Zweistaatenlösung zu kommen. Die Israelis haben im Jahr 1947/48 das Recht auf Selbstbestimmung bekommen. Dieses Recht sollen auch die Palästinenser bekommen. Punkt. Selbstbestimmung muss nicht unbedingt heißen, dass wir zwei Staaten nebeneinander haben, sondern eine Art Föderation oder Konföderation, und da sind die Grenzen sowieso nicht so entscheidend.
Also Juden und Palästinenser friedlich gemeinsam?
Genauso, wie man es in der Schweiz oder in Belgien hat. Friedlich ist relativ, aber das ist, was man anstreben sollte. Meines Erachtens ist das nicht unrealistisch. Man spricht hier immer von einer ewigen Feindschaft von Juden und Arabern – doch die ist relativ neu, etwa im Vergleich zu Europa, wo es über Jahrhunderte tief wurzelnde Feindschaften gab zwischen Deutschland und Frankreich, Deutschland und Polen und andernorts. Hier ist das relativ neu. Deshalb geht es bei diesem Modell um etwas, das es gegeben hat und das man wieder erreichen kann, vorausgesetzt, es ändert sich die Ausgangsposition.
Was haben 50 Jahre Besatzung mit den Israelis und ihrer Innenpolitik gemacht?
Die Besatzung hat die Israelis korrumpiert. Das hat Jeschajahu Leibowitsch seinerzeit vorausgesehen, und so ist es auch gekommen. In dem Moment, wo eine Demokratie damit leben kann, dass sie ein Gebiet beherrscht, wo demokratische, liberale und humane Werte nicht gelten, ist diese Demokratie korrumpiert oder wenigstens defekt. Die allermeisten sind so korrumpiert, dass sie gar nicht merken, dass wir in diesem Zustand leben. Solange man ignoriert, was jenseits der Grünen Linie passiert, existiert in Israel eine Demokratie wie in Europa.
Sie haben vor vielen Jahren den Vergleich gezogen zwischen jungen Siedlern und der Hitlerjugend. Wie hat man in Israel darauf reagiert?
Am 5. Juni 1967 begann mit einem Präventivschlag Israels der Sechstagekrieg mit Ägypten, Jordanien und Syrien. Israel eroberte den Sinai, Teile der syrischen Golan-Höhen, das Westjordanland samt Ostjerusalem und den Gazastreifen. Für die arabischen Staaten war die Niederlage ein Schock. Für Israel war es ein wichtiger Sieg – mit Folgen bis zum heutigen Tag. Denn Teile der eroberten Gebiete hält Israel bis heute besetzt. Über eine Million Palästinenser gerieten damals unter die Besetzung, Hunderttausende flohen.
In einer Serie zum 50. Jahrestag des Sechstagekriegs blickt die taz auf die Folgen der Besatzung für Palästinenser und Israelis. Alle bisherigen Texte finden Sie hier.
Hier müssen wir vorsichtig sein, ich habe schon drei Prozesse hinter mir. Ich habe konkret die Art der Erziehung der Kinder der Siedler in Hebron mit der Hitlerjugend verglichen. Ich wurde bedroht und verklagt. Das ist eine Art der Einschüchterung.
Haben Sie verloren?
Ich habe alle drei Prozesse gewonnen, denn die Gerichte sind hier sehr genau – und was ich gesagt habe, fiel unter den Schutz der Meinungsfreiheit. Ich stehe seither unter Beschuss.
Es sind eine Reihe von Gesetzen verabschiedet worden, die die Meinungsfreiheit deutlich einschränken. Es gab den Zwischenfall mit Bundesaußenminister Sigmar Gabriel, den Netanjahu nicht treffen wollte, weil er Besatzungsgegner gesprochen hatte. Wie steht es um Israels Demokratie?
Im Großen und Ganzen bewegen wir uns noch in den Grenzen der Demokratie, wie wir sie aus Europa kennen. Was sich die israelische Regierung leistet mit der neuen Koalition seit zwei Jahren, ist ein Vorstoß, der diese Demokratie wacklig macht. Die formale Antwort ist immer: Solange die Mehrheit dahintersteht, gilt das als Demokratie. Problematisch ist, dass dieses Verständnis von Demokratie zwei wesentliche Dinge vergisst: Erstens: Die Demokratie schützt die Rechte der Minderheit. Und zweitens gibt es liberale Werte, die eine Demokratie nicht aufgeben kann – wie eben die Meinungsfreiheit.
Empfohlener externer Inhalt
Andererseits kann ich persönlich sagen, dass ich früher gefährdeter war als heute, und zwar, weil die Mehrheit in Israel, die rechts orientiert ist, heute so etabliert und selbstsicher ist, dass Stimmen vom linken Flügel für sie weniger bedeuten als damals. Wir sind zu den Clowns der Gesellschaft geworden, die linken Akademiker und Politiker, das sind die Schwärmer, die Spinner, die Clowns.
Wenn der Religionsphilosoph Jeschajahu Leibowitz von Judonazis spricht oder Sie die Erziehung bei den Siedlern in Hebron mit der Hitlerjugend vergleichen, dann hört sich das anders an, als wenn ein Otto Müller aus Duisburg Israel vorwirft, dieselben Menschenrechtsverletzungen zu verüben, die das jüdische Volk selbst erlitten hat. Was sagen Sie Herrn Müller?
Man riskiert, wenn man Jeschajahu Leibowitz ist oder meine Wenigkeit, Applaus aus der falschen Ecke. Uns geht es natürlich nicht darum, der deutschen Rechten Munition für ihren Antisemitismus zuzuschieben. Unsere Argumente sind nach innen gerichtet. Wir versuchen zu warnen. Eine effektive und legitime Warnung ist zu sagen: Schaut mal, wohin das gehen könnte. Aber wenn es im Ausland als Waffe gegen den Zionismus oder die Juden genutzt wird, ist es falsch angekommen. Selbstverständlich ist ein Björn Höcke in der rechtspopulistischen Szene nicht verpflichtet, das so zu akzeptieren, wie wir es wollten. Entscheidend ist dennoch die Absicht. Dort besteht die Absicht, Israel anzugreifen, hier ist das Ziel, zu warnen.
Und was ist mit uns Deutschen. Sollen wir anknüpfen an den Zwischenfall mit Außenminister Gabriel oder muss man Israel sich selbst überlassen?
Ich war immer der Ansicht, dass die Deutschen, gerade weil sie sich ständig mit ihrer Vergangenheit auseinandersetzen, zu Ergebnissen kommen, die auch für Israel relevant sind. Das muss nicht mit erhobenem Zeigefinger passieren, aber wenn wir alle davon ausgehen: Die Würde des Menschen ist unantastbar, dann müssen daraus praktische Konsequenzen gezogen werden. Das, was an den Straßenkontrollsperren passiert, ist menschenunwürdig. Das ist die Aufgabe – auch für die Deutschen.
Was halten Sie von Boykottaufrufen gegen Israel oder Produkte aus Siedlungen?
Ein Boykott gegen Israel erinnert uns sofort an den 1. April 1933 und „Kauft nicht bei Juden“. Als man Südafrika boykottiert hat, gab es diese Verbindung nicht. Es ist ganz klar: Wenn Juden boykottiert werden, nur weil sie Juden sind, dann haben wir es mit Antisemitismus zu tun. Aber wenn man sich weigert, die Produkte von Siedlern zu kaufen, weil man gegen die Besatzung ist, dann ist das ein legitimer Boykott, den man als Demokrat und liberaler Mensch rechtfertigen kann. Das Problem mit BDS ist, dass sich da Leute untermischen, die rein antisemitisch argumentieren, das färbt ab. Ich persönlich achte darauf, keine Waren aus den besetzten Gebieten zu kaufen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Juso-Chef über Bundestagswahlkampf
„Das ist unsere Bedingung“
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen