Essay Journalismus und Zuwanderung: Wider die Eskalation der Angst
Deutschland hat sich verändert. Die Redaktionen sollten das auch tun. Welche Medien braucht die Einwanderungsgesellschaft? Drei Thesen.
Was bedeutet guter Journalismus, wenn eine Gesellschaft aus immer mehr Zugewanderten besteht? Wie nie zuvor stehen Redaktionen heute unter dem Druck einer täglichen Welle von Hass-Kommentaren. Und wie nie zuvor seit dem Ende des Nationalsozialismus werden Kollegen mit Mord bedroht, offen, öffentlich. Deshalb zunächst Chapeau allen, die diesem Druck standhalten! Doch die Probleme wurzeln tiefer. Können Medien, so wie sie bisher funktionieren, überhaupt zum Gelingen einer Einwanderungsgesellschaft beitragen?
Professioneller Journalismus findet heute in einem radikal veränderten Umfeld statt – und professionell soll hier bedeuten: eine bezahlte Tätigkeit für privatwirtschaftliche oder öffentlich-rechtliche Medien (Print, Online, Rundfunk, Fernsehen). Radikal verändert ist das Umfeld zunächst, weil gesellschaftliche Mobilisierung heute ohne diese Altmedien und teils auch gegen sie möglich ist, und zwar durch eine Zivilgesellschaft, die sich rechts bis rechtsradikal geriert. Zugleich verlangt die moderne Einwanderungsgesellschaft ein neues, dem Gemeinwohl nützendes Selbstverständnis von Journalisten. Dazu drei Thesen.
Erstens. Ein Rückblick auf die vergangenen Jahrzehnte zeigt: Deutschland ist zur Einwanderungsgesellschaft geworden gegen die Medien. Sie haben die Entwicklung mehr behindert als gefördert, sie waren das Schlusslicht beim Marsch in eine neue Zeit. Dies zeigt sich zunächst an jedem Konferenztisch: Während im übrigen Deutschland jeder Fünfte eine familiäre Migrationsgeschichte erzählen kann, ist es in den Redaktionen jeder Fünfzigste. Schützenvereine sind heute interkultureller als Journalistenrunden.
Nachts sind wir freier - und ehrlicher. Deshalb widmet die taz.am wochenende ihre Weihnachtsausgabe vom 24./25./26./27. Dezember 2015 der Dunkelheit und erzählt gute Nachtgeschichten. Wir treffen Sebastian Schipper, der den Nachtfilm des Jahres gedreht hat und sich wie ein Staubsaugervertreter fühlt. Wir sitzen nachts in einem Callcenter auf den Philippinen, wo Anrufe aus den USA ankommen. Und: Unsere Autorin schreibt über die schlimmste Nacht ihres Lebens - die Geburt ihrer Tochter. Am Kiosk, eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo.
Wichtiger aber ist: Medien haben über Jahre entscheidend das negative Image muslimischer Einwanderer geprägt. Die „Islamisierung des Abendlandes“ begann nicht bei Pegida, sondern auf den Titeln des Spiegels. Die Medien tragen insbesondere Verantwortung für die Verachtung, mit der die deutsche Öffentlichkeit auf die muslimische Frau blickt.
Bis heute illustrieren Redaktionen das Thema Bildungsdefizite am liebsten mit einem Kopftuch. So ist denn auch eine neue Generation hoch gebildeter Musliminnen in Deutschland gegen die Medien herangewachsen. Das enorme Selbstbewusstsein dieser jungen Frauen entstand im Kampf gegen die Geringschätzung, die ihnen an jedem Zeitungskiosk entgegenschlug.
Journalisten reagieren gereizt, wenn man sie auf die Wirkung ihrer Branche anspricht. Medienleute nehmen zwar gern Vorrechte und Privilegien in Anspruch, die ihnen als Kollektiv gewährt werden, bis hin zum Presserabatt für private Anschaffungen. Doch wenn es um die Folgen ihres kollektiven Handels geht, will niemand Verantwortung übernehmen: Bitte nichts verallgemeinern!
Tatsächlich aber sind wir Journalisten zuständig: nämlich für die hochgiftigen Altlasten jahrelanger Meinungsmache. Sie kommen nun als Kondensat zurück, mit Aufschriften wie AfD oder Le Pen, und quellen aus den Kommentarfunktionen.
Neue Position beziehen
Zweitens. Die Einwanderungsgesellschaft verlangt von Journalisten ein neues Verständnis ihrer Rolle – und den Abschied von einem so beliebten wie überholten Selbstbild. Journalisten neigen immer noch dazu, sich an die Stelle der Gesellschaft zu setzen und den Politikern dann in der Pose selbsternannter Volkstribune gegenüberzutreten. Das war vielleicht in den 1980er Jahren schick. Das vielstimmige Deutschland des 21. Jahrhunderts hat an diesen Posen keinen Bedarf mehr.
Als sich in der Anfangsphase der Willkommenskultur das massenhafte Handeln einer erwachsenen Zivilgesellschaft zeigte, reagierten die Medien überrascht und irritiert. Manche hechteten in die populäre Welle, jede Distanz verlierend, andere retteten sich in Häme. Es war die Häme derer, die an Statusverlust leiden. Erst waren sie als Lügenpresse geschmäht worden, und nun brauchten die Gutmenschen sie auch nicht mehr.
Wer auf die Zusammensetzung der ehrenamtlichen Helfer blickte, der sah: Das Einwanderungsland ist Realität geworden; unter der Oberfläche, jenseits von allem politischen Getöse, hat sich Deutschland immens verändert. Für die Medien, die diese Veränderung am eigenen Leibe nicht mitvollzogen haben, wird es Zeit, sich neu zu positionieren – um die Privilegien, die sie als Kollektiv genießen, weiter zu rechtfertigen.
Was heißt das konkret? Anders als etwa Joachim Gauck, der jüngst einen Kanon unverbrüchlicher Werte beschrieb, in den sich die Zugezogenen integriert müssten (etwa „das vorbehaltlose Bekenntnis zum Existenzrecht Israels“), sehe ich die Einwanderungsgesellschaft als eine permanente Werkstatt, in der wir um neue Konsense ringen müssen. Am Beispiel Israel wäre das die schwierige Frage: Wie kann Deutschland künftig seiner Verantwortung aus dem Holocaust gerecht werden, wenn ein wachsender Bevölkerungsteil mit der Geschichte der Täter nicht mehr verbunden ist?
Angstgesteuerten Mechanismus überwinden
In der permanenten Werkstatt sollten Journalisten besonders kundige Handwerker sein. Kundig im Übersetzen, im Erklären, durchaus auch im Vermitteln. Vermitteln heißt nicht beschönigen. In der Vergangenheit schienen die Medien oft in das Misslingen von Integration verliebt – weil nur das Negative, das Misslungene ein feines Thema ist. In der Summe entstand so ein Zerrbild, an dem sich Rechtspopulismus nährt. Könnten sich Journalisten auch als Agenten des Gelingens einer Einwanderungsgesellschaft empfinden?
Dafür müssten sie allerdings einen Mechanismus überwinden, der vor allem die aktuellen Medien antreibt – ich nenne ihn den „angstgesteuerten Eskalationstrieb“. Nichts fürchten Blattmacher und Programmverantwortliche mehr, als verspätet mitzubekommen, woher der Wind weht (den die Branche selber macht).
Bloß nicht als Letzter das neueste Worst-Case-Szenario entdecken. Bloß nicht als Letzter den Brandgeruch riechen, wenn etwas kokelt. Lieber einen Konflikt schüren, bevor es andere tun. So wird ein Flüchtling, der einer Frau nicht die Hand geben will, zum Thema von Millionen.
Um einen Journalismus zu betreiben, der deeskaliert statt eskaliert, ist Mut und geistige Unabhängigkeit erforderlich. Genug Unabhängigkeit, um etwa einem SPD-Chef zu sagen, dass er die Rentnerin in Kittelschürze besser nicht „Pack“ nennt, solange ihr feiner Souffleur in der Partei ist.
Monopol der Altmedien
Drittens. Trotz Statusverlust – Medien haben Macht. Nur liegt diese Macht heute vor allem in der außenpolitischen Berichterstattung. Sie entscheidet maßgeblich, ob es in der Einwanderungsgesellschaft eine Bereitschaft zum inneren Frieden und zum Teilen gibt. Es kommt dafür nämlich darauf an, welches Bild von der Welt vermittelt wird – und von der Rolle der eigenen Nation und der eigenen Lebensweise in dieser Welt.
In der auswärtigen Berichterstattung haben die Altmedien immer noch weitgehend ein Monopol, jedenfalls für alle, die sich nur in deutscher Sprache informieren können. Das ist vor allem die kopfstarke ältere Generation. Und gerade die müssen wir mitnehmen, müssen wir gewinnen für die Akzeptanz einer Gesellschaft, die sich von jener, in der die Alten jung waren, eben sehr unterscheidet.
Die Einwanderungsgesellschaft braucht Medien, die eine aufgeklärte Sicht auf die Konfliktlagen der Welt vermitteln, ohne eurozentrische Denkschablonen. Dazu gehört der präzise Blick auf die politischen und wirtschaftlichen Interessen der Mächtigen des eigenen Landes. Eine mit Ressentiments gespickte Berichterstattung, wie es sie über Griechenland gab, kann sich die Einwanderungsgesellschaft nicht leisten. Denn diese Ressentiments verwandeln sich schnell zu Aggressivität im Inneren.
Außenpolitische Berichterstattung ist heute fast nur noch Kriegsjournalismus. Und sie vermittelt eine Welt, in der die Deutschen fast ausschließlich Opfer sind. Opfer schlampiger Griechen, Opfer gieriger afrikanischer Wirtschaftsflüchtlinge und natürlich Opfer muslimischer Terroristen. Während die Welt jetzt zu uns kommt, wird unser Guckloch auf die Welt immer kleiner: Eine totgesparte Berichterstattung durch schlechtbezahlte freie Journalisten und mit Studio-Experten, die über Weltgegenden reden, die sie oft nie von Nahem gesehen haben. Das kann nicht gut gehen.
Wir sollten uns als eine der reichsten Nationen der Erde eine außenpolitische Berichterstattung leisten, die zu unserer geistigen Gesunderhaltung beiträgt. Und die uns friedensfähig macht, auch gegenüber dem Anderen zu Hause.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Putins Atomdrohungen
Angst auf allen Seiten
BGH-Urteil gegen Querdenken-Richter
Richter hat sein Amt für Maskenverbot missbraucht
Umweltfolgen des Kriegs in Gaza
Eine Toilettenspülung Wasser pro Tag und Person
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Biden genehmigt Lieferung von Antipersonenminen
BSW stimmt in Sachsen für AfD-Antrag
Es wächst zusammen, was zusammengehört
Streit in der SPD über Kanzlerkandidatur
Die Verunsicherung