Kommentar Terror in der Türkei: Jeder in seinem Schützengraben
Nach dem Anschlag in Suruç und der blutigen Reaktion der PKK geben sich AKP und HDP gegenseitig die Schuld. Der Neuanfang scheint vertan.
E s hätte die Chance auf einen Neuanfang sein können. Was wenn nicht das furchtbare Massaker in der kurdischen Grenzstadt Suruç wäre ein Grund für die widerstreitenden politischen Gruppen der Türkei gewesen, innezuhalten und sich zu fragen: Was müssen wir anders machen, damit die Gefahr eines solchen Horrors in Zukunft gebannt werden kann?
Tatsächlich gab es unmittelbar nach dem Terroranschlag einen Moment, der Hoffnung machen konnte. Der Schock über alle politischen Grenzen hinweg war groß. Ministerpräsident Ahmet Davutoğlu erklärte ohne großes Drumherumgerede, er gehe davon aus, dass Anhänger des so genannten Islamischen Staates für das Massaker verantwortlich seien. Er lud alle im Parlament vertretenen Parteien ein, sich zu treffen und eine gemeinsame Erklärung gegen den Terror abzugeben. Dieses Treffen aber fand nicht statt. Der Moment für einen Neuanfang ging vorbei, ohne dass er auch nur richtig wahrgenommen worden wäre.
Die kurdische HDP beschuldigte die regierende AKP, dass ihre Politik der Duldung und heimlichen Unterstützung des IS das Attentat überhaupt erst möglich gemacht habe – was nicht falsch ist, aber völlig ignorierte, dass Davutoğlu eine Änderung dieser Politik in Aussicht stellte. Statt zu reden, setzte die kurdische Guerilla der PKK allen politischen Annäherungsversuchen ein Ende, als sie gestern als Rache für Suruç zwei Polizisten in ihrer Privatwohnung ermordete.
Die Reaktion der Regierung kam prompt. Nach einer Sondersitzung des Kabinetts gestern Abend konterte Regierungssprecher Bülent Arınç die Vorwürfe der HDP, die Polizei hätte die Veranstaltung der sozialistischen Jugendgruppen in Suruç nicht geschützt mit der hinterhältigen Frage, warum denn auch kein Vertreter der HDP bei der Veranstaltung anwesend war.
Hinter dieser Frage verbirgt sich eine Verschwörungstheorie, die in regierungsnahen Medien bereits früher zirkulierte. Die HDP habe von den Anschlagsvorbereitungen gewusst, es aber geschehen lassen, um der AKP die Schuld daran in die Schuhe schieben zu können. Der Chef der HDP, Selahattin Demirtaş, wies diese Unterstellung empört zurück, distanzierte sich gleichzeitig aber nur halbherzig vom Polizistenmord der PKK. Damit ist die Chance auf einen Neuanfang vertan. Jedes politische Camp bleibt in seinen Schützengräben. Der Terror wird weitergehen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Historiker Traverso über den 7. Oktober
„Ich bin von Deutschland sehr enttäuscht“
Elon Musk greift Wikipedia an
Zu viel der Fakten
Grünen-Abgeordneter über seinen Rückzug
„Jede Lockerheit ist verloren, und das ist ein Problem“
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Das Weihnachten danach
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Scholz fordert mehr Kompetenzen für Behörden