Debatte Flüchtlingshilfe: Sterben leicht gemacht
Syrische Notleidende sind der UN halb so viel wert wie palästinensische. Das zeigt ein Zahlenvergleich. Die internationale Hilfe ist beschämend.
Während Tripolis erwacht, drängen sich schon die ersten Syrer vor der Vertretung des UN-Hochkommissariats für Flüchtlinge (UNHCR). Tripolis ist jene Stadt im Libanon, die bisher am weitesten in den Strudel des syrischen Bürgerkriegs hineingezogen wurde. Das UNHCR-Büro gleicht deshalb einer Festung.
Draußen lehnen sich Flüchtlinge an die Umfassungsmauer und genießen für einen Augenblick die wärmenden Strahlen der Morgensonne. Manche von ihnen haben die letzte Nacht in Bauruinen oder Schulen verbracht. Nun wollen sie sich beim UNHCR registrieren lassen – in der Hoffnung auf ein bisschen Hilfe.
Eigentlich müsste man per Hotline einen Termin vereinbaren. Doch ein Durchkommen ist fast nicht möglich. Viele versuchen es auf gut Glück. Noch vor dem großen Kontrollposten am Eingang stehen sie Schlange vor einem kleinen Verschlag und warten darauf, das Gelände betreten zu dürfen.
Die nächste Wartezone befindet sich unter einem Sonnendach. Auch dort passiert zuerst einmal nichts. Später nimmt eine Frau an einem Tisch die Personaldaten der Flüchtlinge entgegen, überträgt sie auf ein Formular und verteilt dann eine Nummer, die irgendwann von einem Sicherheitsbeamten aufgerufen wird. Damit gelangt man in einen weiteren Wartesaal. Diesmal geht es darum, die Ausweispapiere kopieren zu lassen. Dann wieder Warten auf Plastikstühlen. Erst danach folgt das eigentliche Interview durch eine Mitarbeiterin.
Nach einem heftigen Bombardement von Regierungstruppen ist in der syrischen Stadt Aleppo die Zahl der Todesopfer auf mindestens 83 gestiegen. Das berichteten die lokalen Revolutionskomitees in der nördlichen Stadt am Montag. Allein in dem Viertel Al-Haidarija starben nach ihren Angaben 35 Menschen, als eine Hubschrauberbesatzung am Sonntag ein mit Sprengstoff gefülltes Fass über einer belebten Straßenkreuzung abwarf. (dpa)
Jeden Tag registriere das UN-Hochkommissariat im Libanon 3.000 syrische Flüchtlinge, erzählt Roberta Russo, die Kommunikationsbeauftragte im Beiruter Hauptsitz des UNHCR. Insgesamt seien mehr als 833.000 Syrer gemeldet.
In Wirklichkeit leben inzwischen mehr als 1.100.000 syrische Flüchtlinge im kleinen Libanon mit seinen vier Millionen Einwohnern. Das wäre so, als kämen plötzlich 20 Millionen Flüchtlinge nach Deutschland. Der Zustrom überfordert nicht nur die Libanesen, sondern auch das Flüchtlingshochkommissariat, wie Russo unumwunden zugibt.
Von den 1,7 Milliarden Dollar, die das UNHCR dieses Jahr für die Versorgung der syrischen Flüchtlinge brauche, habe man nur gerade 38 Prozent in Form von Spenden erhalten. Das wirkt beschämend für die sogenannte internationale Gemeinschaft, von der sich einige Länder, darunter die USA, Großbritannien, Frankreich und Deutschland, zur „Gruppe der Freunde des syrischen Volkes“ zusammengeschlossen haben.
Nur die Gehälter sind großzügig
Außerdem müssen mit den 38 Prozent nicht nur die Flüchtlinge alimentiert werden, sondern auch die ausufernde UN-Bürokratie, die ihren Mitarbeitern im Vergleich zu anderen Hilfsorganisationen zum Teil astronomische Gehälter bezahlt.
lebt in Zürich und ist freier Journalist und Kriegsreporter. Seit 30 Jahren berichtet der promovierte Ökonom für das Schweizer Fernsehen, die ARD, den Spiegel, die Weltwoche und den Economist unter anderem aus Afghanistan, Darfur, Somalia sowie Kongo, Libyen und Syrien.
Weil „ein Ausländer weniger auffällt als zwei“, ist er in der Regel allein unterwegs. In syrische Rebellengebiete reiste der 48-Jährige bisher siebenmal.
Angesichts des Geldmangels erstaunt es nicht, dass sich das Welternährungsprogramm (WFP), eine andere UN-Organisation, im November gezwungen sah, 30 Prozent der Flüchtlinge im Libanon von den Empfängerlisten für Nahrungsmittelgutscheine zu streichen. Verkauft wurde die Aktion als Programm, um die Hilfe besser auf jene Flüchtlinge zu fokussieren, die am meisten Not litten. Dabei haben die UN-Bürokraten nicht die Kapazität, um informierte Entscheidungen zu treffen, wer am ehesten ohne die Essensgutscheine überleben kann.
Nahrungsmittelhilfe gestrichen
Bei den Recherchen im Libanon traf ich zum Beispiel einen jungen Kriegsverletzten, der nur auf einer Matratze am Boden liegen konnte und dessen linkes Bein nach einer Operation um zehn Zentimeter kürzer war als das rechte. Ihm hatte man die Nahrungsmittelhilfe genauso gestrichen wie einer Mutter, deren kleiner Sohn an einem Gehirntumor leidet.
Noch bitterer sieht es in Syrien selbst aus. Dort irren nach UN-Angaben schätzungsweise 6,5 Millionen Menschen als intern Vertriebene umher. Nimmt man die offiziellen Zahlen des UN-Büros für die Koordination humanitärer Angelegenheiten (OCHA) zum Maßstab, dann stehen derzeit etwa 840 Millionen Dollar für die Hilfe zugunsten dieser Vertriebenen zur Verfügung. Das entspricht knapp 130 Dollar pro Mensch und Jahr.
Doch nicht in allen Konflikten wird mit gleichem Maß gemessen. So gibt es eine eigene UN-Behörde, die sich seit 63 Jahren um das Los der aus Israel vertriebenen Palästinenser kümmert. Von jenen Palästinensern einmal abgesehen, die jetzt in Syrien quasi zum zweiten Mal Flüchtlinge wurden, lässt sich die Situation der seit vielen Jahren im Gazastreifen oder Westjordanland lebenden Bevölkerung kaum mit jener der syrischen Flüchtlinge vergleichen.
Ungleiche Budgets
Dennoch budgetierte die UN-Agentur für die palästinensischen Flüchtlinge (UNRWA) dieses Jahr 627 Millionen Dollar für die rund 2,1 Millionen Menschen, die das Hilfswerk dort betreut. Das sind etwa 295 Dollar pro Kopf und Jahr, also mehr als doppelt so viel, wie der UN ein Vertriebener in Syrien „wert“ ist.
Während meiner insgesamt sieben Reisen durch Nord- und Zentralsyrien ist mir in den letzten zwei Jahren kein einziger Vertreter einer westlichen Hilfsorganisation begegnet. Nicht nur das. Nicht einmal von Weitem habe ich ein Emblem, eine Fahne oder eines der weißen Geländefahrzeuge der Helfer gesehen, die in anderen Konfliktgebieten sonst allgegenwärtig sind.
#Selbst als Hilfe in den syrischen Rebellengebieten noch möglich war, glänzten die sogenannten Nichtregierungsorganisationen durch Abwesenheit. Sie überließen das Feld ihren islamistischen Kollegen aus dem arabischen Raum, die Nahrungsmittel, Medikamente und andere Hilfsgüter bereitwillig verteilen – und dabei mittelalterliche Vorstellungen vom Islam und der Rolle der Frau verbreiten.
Westliche Hilfe nicht mehr möglich
Inzwischen ist es zu spät, das Rad zurückzudrehen. Al-Qaida-Terroristen aus dem Irak haben im Verbund mit anderen ausländischen Dschihadisten die Macht in weiten Teilen der Rebellengebiete übernommen. Westliche Hilfe ist dort nun ebenso wenig möglich wie unabhängige Berichterstattung. Wer trotzdem als Nichtmuslim in die von Rebellen beherrschten Zonen reist, riskiert sein Leben.
Eine der wenigen großen Hilfsorganisationen, die noch in Syrien arbeitet, ist das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK). Dieses Jahr gibt das Hilfswerk mehr als 100 Millionen Dollar allein in Syrien aus – die Hilfe für Flüchtlinge in den Nachbarländern nicht eingerechnet.
Doch Hilfe im Syrien von Diktator Assad hat seinen Preis. Wie andere Hilfsorganisationen muss auch das Rote Kreuz mit dem Syrisch-Arabischen Roten Halbmond zusammenarbeiten. Der ist auf dem Papier zwar unabhängig, in Wirklichkeit aber eine weitgehend vom Regime gesteuerte Organisation. Dass viele syrische Helfer des Roten Halbmonds ihr Leben riskieren, um auf beiden Seiten Verwundeten zu helfen oder Nahrungsmittelpakete zu verteilen, ändert daran nichts.
Der Rote Halbmond in Syrien
Präsident des Roten Halbmonds ist Abdul Rahman Attar, einer der reichsten Geschäftsleute Syriens. Er steht dem Regime nahe und hat schon für Assads Vater Hafis versucht, in den USA militärische Kommunikationsausrüstung zu beschaffen, wie aus Wikileaks-Dokumenten hervorgeht. Die Funkgeräte waren für den berüchtigten Geheimdienst der Luftwaffe bestimmt. Zudem ist Attar Geschäftspartner von Assads Cousin Rami Machluf, der Gewalttaten gegen Demonstranten finanziert hat und daher auf einer Sanktionsliste der EU steht.
Vor diesem Hintergrund ist es nicht erstaunlich, dass sich das IKRK mit Kritik an den Vernichtungsfeldzügen des Regimes zurückhält. Dies gilt nicht nur für die Giftgasangriffe in Damaskus, sondern auch für das Aushungern ganzer Stadtteile von Homs und Damaskus durch die Regierungstruppen.
Das Schweigen des Roten Kreuzes zu den vielleicht schlimmsten Kriegsverbrechen seit dem Bosnienkonflikt wird übrigens nicht besser, wenn man zugleich versäumt, die Menschenrechtsverletzungen verschiedener Rebellengruppen anzuprangern.
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