Konflikt in der Ukraine: Kommt der Krieg zurück?
Milizionäre und Lehrerinnen im Osten der Ukraine fürchten eine Rückkehr der Kämpfe. Kinder üben dagegen im Theater Normalität.
Die Angst kommt nach zwei Wodka in einem Restaurant zurück, dass mit seinen goldfarbenen Zaun und dem tempelartigen Portal aussieht, als wäre ein Stück von Las Vegas abgebrochen und hier in Slawjansk, Ostukraine, aufgeschlagen. „Den ganzen Tag habe ich das Adrenalin gespürt, das Gefühl, dass gleich etwas passiert“, sagt der große schwere Mann in der hellbraunen Tarnuniform, viel Bauch, wenig Hals, schwere beige Stiefel, „das Schlimmste am Krieg ist das Warten.“
700 Kilometer seien sie heute gefahren, sagt er, immer die Front entlang, oder da, wo sie glaubten, dass dort die Front sei. In einem Dorf haben sie lautes Waffenfeuer gehört, angehalten, beobachtet und sich gefragt, ob sie jetzt in ein Gefecht geraten. Sie waren zu zweit. Er, der schwere Mann, ein Fahrer, der verstärkte Handschuhe trägt, gut fürs Steuern, gut fürs Zuschlagen und ein drahtiger, jüngerer, der ein hohes Tier sein soll beim Rechten Sektor, einer der Milizen die neben der ukrainischen Armee gegen die von Russland unterstützten Separatisten kämpfen. Offiziell herrscht ein Waffenstillstand. Dennoch gibt es ständig Feuergefechte.
Die Moral der ukrainischen Truppen sei schlecht, sagen die beiden Soldaten der Miliz. Im Restaurant bedienen junge Frauen in Kostümen, die an Rotkäppchen erinnern würden – wenn Rotkäppchen ein Porno wäre. Die ukrainische Armee und die Milizen haben die meisten Schlachten verloren, zuletzt den Kampf um den Ort Debalzewe im Februar dieses Jahres. Die beiden Kämpfer fürchten sich vor Tschetschenen auf den Seiten der Separatisten, wegen deren Kampferfahrung. Und sie haben Angst, dass der Krieg im Sommer wieder beginnt.
Kann das passieren?
Friedlich zurückholen. Möglichst
In der letzten Aprilwoche hat Alexander Sachartschenko, der Chef der „Donezker Volksrepublik“, dem Magazin „Spiegel“ gesagt, er beanspruche das gesamte Gebiet des früheren Bezirkes Donezk. Slawjansk gehört dazu. Sachartschenko sagte, man wolle sich das Gebiet „möglichst auf friedlichem Wege“ zurückholen. Möglichst.
Der Waffenstillstand wird des Öfteren gebrochen. Der ukrainische Präsident Petro Poroschenko kündigte die Rückeroberung des Donezker Flughafens an. Das Parlament in Kiew diskutiert einen Gesetzentwurf, der den Einsatz von Ausländern in der ukrainischen Armee ermöglichen würde. Soldaten an der Front sollen keine Mobiltelefone mehr besitzen dürfen. In Moskau machte die Regime aus dem Tag des Sieges über das nationalsozialistische Deutschland eine große Waffenshow angesichts derer der russische Schriftsteller Viktor Jerofejew einen neuen Konflikt zwischen Russland und dem Westen heraufziehen sieht: “Der Krieg hat gerade erst begonnen.“
Erst in dieser Woche berichtete die ukrainische Armee von Kämpfen am Asowschen Meer und um den Flughafen von Donezk herum. Die prorussischen Separatisten warfen der Armee vor, in der Region am Meer einen Zivilisten getötet zu haben.
Schutzwesten basteln
In der Ukraine bemerkt man, aus Deutschland kommend, erst gar nicht viel vom Krieg. An der Passkontrolle am Kiewer Flughafen Borispil steht ein Soldat, bleistiftdünn, die Uniform zu groß, Maschinenpistole auf dem Rücken. Der Intercity nach Osten, knapp sechs Stunden dauert die Fahrt von Kiew nach Slawjansk, strahlt klinische deutsche Regionalbahngemütlichkeit aus, viel graues Plastik, die Sitzpolster dunkelblau mit hellblauen Pünktchen. Ab und an Soldaten, zwei Sanitäter wollen sich gern auf freie Plätze legen und schlafen, aber der Schaffner lässt nur dort sitzen, wo auch reserviert ist.
Seit über 20 Jahren hört Radiomoderator Jürgen Domian den Menschen der Nacht zu. Er spricht mit Mördern, Nonnen und Frauen aus dem Wald. Bald will er aufhören. Ein Gespräch in der taz.am wochenende vom 16./17. Mai 2015. Außerdem: Wie Millionäre mit dem eigenen Boot Flüchtlinge retten. Und: Militärmode von der Fashion Week in Moskau. Am Kiosk, eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo.
Auf Fernsehbildschirmen läuft ein schwarz-weißer Film über einen Zirkus, es wird viel gelacht. Zwischendrin Werbung, ein kleiner Junge bastelt einem Soldaten eine Schutzweste aus Buntpapier, dann werden Kontonummern eingeblendet. Der ukrainische Staat hat nicht genug Geld also soll die Bevölkerung für schusssichere Westen spenden. Am Bahnhof in Slawjansk die Ansage: Jeder der illegal eine Waffe besitzt, kann sie straffrei bei der Polizei abgeben.
16 Kilometer weiter östlich, Straßen mit Schlaglöchern, rechts ein zerschossenes Krankenhaus, liegt Nikolajewka, eine Stadt, die vor allem existiert um Slawjansk mit Energie zu versorgen, die Schornsteine des Kraftwerks sind von überall her zu sehen. In einem Keller neun Stufen unter ihrem Hühnerstall zeigt die Geschichtslehrerin Olga Genadiewna, wie sie die drei Tage überstanden hat, als die ukrainische Armee ihre Stadt von den Separatisten zurück eroberte. Das war im Juli 2014.
Super Mario, bis der Akku alle ist
Auf dem Boden liegen Holzpaletten und darauf durchgescheuerte rote Teppiche, man könnte sie jederzeit wieder ausrollen zu einem Lager für die Nacht. „Drei Tage waren wir hier unten“, sagt Genadiewna. Sie trägt ein graues Kleid mit kleinen schwarzen Karos und Wasserfallkragen, bis vor einer Stunde hat sie noch in der Schule gearbeitet. Nach kurzer Zeit sei die einzige Glühbirne erloschen, sagt sie, Stromausfall. Zu fünft lagen sie nebeneinander auf fünf mal sechs Metern, Olga Genadiewna, ihr Mann, Tochter, Sohn und Mutter. Aus den Metallregalen nahmen sie Schmalz, eingelegtes Gemüse und aßen den Vorratskeller leer. Als Klo diente ein Eimer.
Die Tochter spielte auf dem Tablet so lange Super Mario bis der Akku alle war. Dann war es richtig dunkel. Sie hörten Schüsse, einen Knall, Pfeifen, Schüsse. Ihr Mann sagte, das sei jetzt ein Panzer gewesen, das eine Haubitze. Als er einmal hinausging, um die Schweine zu füttern, schleuderte ihn eine Explosion in ein Beet.
„Ich glaube nicht, dass der Krieg zurückkommt“, sagt Olga Genadiewna. Sie will es nicht glauben. Es war beim ersten Mal schlimm genug. Als die Lehrerinnen der Schule Nummer 3 in Nikolajewka, ihre Schule nach den Angriffen sahen, haben sie geweint. Ein Video, immer noch in der Videosammlung Youtube zu finden, lässt ihre Verzweiflung ahnen. Im August 2014 haben sie es veröffentlicht, sie baten um Spenden für einen Wiederaufbau. Carl Orffs Oh Fortuna, Schicksal, wie der Mond dort oben, so veränderlich bist Du, zu verpixelten Bildern gebrochenen Holzes, zersplitterten Glases.
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Die Künstler kamen, um zu helfen
Es kam eine Gruppe von Künstlern aus Kiew, die Gruppe nennt sich „Neuer Donbass“, sie halfen beim Wiederaufbau der Schule. Das Geld, 30.000 Euro, gab eine Investmentfirma, sie bekommt dafür bald eine Plakette am Gebäude. Die Schule ist heute wieder geflickt. Funktioniert das auch mit Menschen?
In der Titelgeschichte der taz.am wochenende vom 16./17. Mai 2015 erzählen wir, wie der in Hamburg geborene Regisseur Georg Genoux genau das versucht. In einem Theaterstück sollen Kinder vom Krieg erzählen, vom Leben abseits des Krieges. Theater, sagt der deutsche Regisseur, 38 Jahre alt, Studium in Russland, seit 18 Jahren arbeitet er in Osteuropa, habe die Möglichkeit, auch in solchen Konfliktgebieten zu helfen, Seelen zu reparieren oder doch wenigstens Geschichten zu teilen. Deshalb ist er in die Schule Nummer 3 gekommen. „Der Schmerz vergeht auch dadurch nie“, sagt er, „aber Menschen können so irgendwann lernen, mit ihren Erlebnissen umzugehen.“
Auf der Linie
Dreizehn Kinder proben das Erzählen an der Grenze. Auf der Linie zwischen dem Land, das die Regierung in Kiew tatsächlich kontrolliert und dem Teil, der nur noch auf den offiziellen Karten zur Ukraine gehört.
Kateryna Sergejewa erzählt davon, wie sie zum Spaß einen Freund heiratete als sie noch ganz klein war. Die Eltern gaben einen Ring - die Kinder brachen den zweiten von einer Coladose ab - und eine Tischdecke als Schleier. Den Trauzeugen spielte ein Verwandter. Er fiel im Krieg.
Maria Schapowal erzählt so gut wie gar nichts. Sie zeichnet. Menschen im japanischen Mangastil, mit Schmetterlingen statt Mündern und Ritzspuren auf den Armen.
Die Titelgeschichte beschäftigt sich mit der Frage, wie Kinder mit dem Krieg umgehen. Jungen und Mädchen erzählen Geschichten von Liebe, Verlust und dem Wunsch die Welt zu verändern.
Olga Genadiewna sagt, sie träume von einer Ukraine, in der die Menschen glauben, dass sie alles selbst schaffen können. Sie glaube an Frieden. Irgendwie. Sie lacht. Das haben die Lehrerinnen der Schule Nummer 3 auch den Schülerinnen erzählt. Dass der Krieg nicht wiederkommen wird. Dass die Schule jetzt sicher sei. Dass sie keine Angst mehr haben müssen.
Kann Theater helfen zu heilen?
Diskutieren Sie mit!
Die Titelgeschichte „Wie der Krieg erwachsen macht“ lesen Sie in der taz.am wochenende vom 16./17. Mai 2015.
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