Folgen der NSA-Enthüllungen: Am idealen Gefängnis bauen
Die Botschaft ist eindeutig: Die Geheimdienste wissen alles. Aber was folgt daraus für die Überwachten – Durchschnittsbürger wie Terroristen?
„America knows everything“ – Amerika weiß alles. Das bekommt Johannes Niederhauser von einem US-Grenzbeamten ins Gesicht gesagt. Der junge Hobbymusiker und gelegentliche Autor für das Vice-Magazin hatte nachgefragt, woher der Beamte bestimmte Informationen über ihn habe. Am Flughafen in Minneapolis wurde er nach eigenen Angaben über mehrere Stunden verhört – und dann nach Europa abgeschoben.
Wenigstens ist er nicht in einem kenternden Boot auf hoher See sich selbst überlassen worden. So kann Niederhauser sich über seine vergleichbar privilegierte Ausgangssituation noch freuen und dann ein wenig fluchen über die Unbequemlichkeit eines verwehrten Grenzübertritts. Dass aber ein beliebiger Grenzposten persönlichste Daten (darunter mutmaßlich den Inhalt privater Emails) anscheinend auf Knopfdruck abrufen kann, darüber sollte Niederhauser sich ernsthaft Sorgen machen.
Totale Überwachung hat nämlich nicht nur den praktischen Auftrag Daten zu sammeln und auszuwerten. Darüber hinaus sendet ihre Existenz alleine auch eine Botschaft. „America knows everything“ – das ist die Botschaft der NSA an den Rest der Welt. Ob deutsche Sicherheitsbehörden sich nur bescheidener geben oder tatsächlich signifikant weniger wissen als ihre amerikanischen Partnerdienste wissen wir nicht.
Überhaupt wissen wir sehr wenig. Andy Müller-Maguhn (CCC), der den Spiegel in Bezug auf die Snowdenfiles berät, schätzt ein, dass „etwa 5 %“ des Materials bisher veröffentlicht seien. Er verweist auf eine Webseite, die halbernst vorrechnet, dass bei der aktuellen Publikationsgeschwindigkeit vom Guardian et al noch gut 26 Jahre bis zur kompletten Offenlegung vergehen würden.
Beispiellose Hetzkampagne
Zurückgehalten werden von den beteiligten Medien unter anderem solche Daten, die nach ihrer Einschätzung Einzelpersonen und operative Vorgänge gegen terroristische Organisationen gefährden. Doch selbst diese vorsichtige Publikationspolitik ist den Geheimdiensten und regierungstreuen britischen Medien noch viel zu weitgehend.
In einer beispiellosen Kampagne beschreiben sie den Guardian als eine Bande vaterlandsloser Gesellen, die keinen Gedanken an die Sicherheit Großbritanniens verschwendeten. Eine Solidaritätsnote internationaler Zeitungen für das Hausblatt der liberalen und sozialdemokratischen britischen Linken folgte prompt.
Der Gedanke, dass der Enthüllungen nun langsam mal genug sei, ist nicht ganz neu und wurde schon eher, auch von liberaler Seite, geäußert. Tatsächlich stellt sich abseits ohnehin fragwürdiger sicherheitspolitischer Abwägungen die Frage: Welchen Zweck kann die ausgewählte Veröffentlichung einzelner Dokumente noch verfolgen. Die Kernbotschaft dürfte inzwischen überallhin durchgedrungen sein.
Johannes Niederhauser jedenfalls hat die Botschaft am Flughafen in Minneapolis verstanden. „America knows everything.“ Er beschreibt wie ihn seit dem Erlebnis Übelkeit beim Anblick von Uniformierten überkommt, wie Angstschweiß ihn selbst auf einem innereuropäischen Flug plagt.
Angst, Übelkeit, Ohnmacht: Dafür braucht es nicht einmal die unmittelbare Konfrontation mit der Macht. Paradoxerweise genügt es völlig, die Sektion „The NSA Files“ im Guardian zu lesen. Eine bessere PR kann der disziplinierende Staat kaum bekommen.
Permanente Selbstkontrolle
Michel Foucault greift die Idee des Panopticons, des idealen, weil effizienten, Gefängnisses auf und wendet sie als Modell zur Beschreibung der westlichen Gesellschaft an. Die Insassen des Gefängnisses können jederzeit beobachtet werden, ohne zu wissen, ob sie im konkreten Moment im Blick des Wärters sind. Der sitzt in seinem Turm (oder eben gerade nicht), und seine Arbeit, die Disziplinierung der Insassen wird von denen selber erledigt. Aus Angst vor der Überwachung und folgender Sanktionen bei Regelverletzungen internalisieren sie den Überwacher. Es ist ein perfektes System der permanenten Selbstkontrolle.
Das ganze funktioniert natürlich nur dann, wenn beim Insassen ein Bewusstsein für die Überwachung besteht. Er muss wissen, dass da der Turm ist, von dem aus theoretisch alles gesehen wird. Erst dann erfüllt die Sicherheitsarchitektur ihren Zweck. Daher auch das Paradox der Snowdenenthüllungen: Alles was sie uns bis jetzt mitgeteilt haben, ist, dass da dieser Turm ist. Willkommen im idealen Gefängnis, das selbst noch den dissidenten Akt der Enthüllung zweckdienlich absorbieren kann.
So stellt sich weniger die Frage danach, wo die öffentliche Empörung über die enthüllte Totalüberwachung bleibt. Vielmehr ist zu klären, ob Menschen ihr Handeln ändern, ob Dinge bereits ungesagt bleiben, aus Sorge den Apparat für spätere Attacken mit Informationen zu bewaffnen. Solange die geheime Überwachungsmaschinerie zumindest den Eindruck ihrer Totalität vermittelt, ist diese Sorge schließlich nicht völlig aus der Luft gegriffen.
Insofern muten die gebetsmühlenartig wiederholten Bekenntnisse auch geheimdienstkritischer Publikationen zur Notwendigkeit der Geheimdiensttätigkeit im Kampf gegen den internationalen Terrorismus kurzsichtig an. Der Turm, der den unkontrollierten Einblick gewährt, ist nicht gesetzlich regulierbar oder demokratisch zu kontrollieren. Er wird, solange er da ist, zu Recht als Bedrohung wahrgenommen und beeinflusst so das Leben der potentiell Überwachten. Für die geheime Überwachung gilt in jeder Ausprägung, dass die Angst davor und der so erzeugte Anpassungsdruck immer umfassend sind.
Eine schöne homogene Gesellschaft
Dass, ganz nebenbei, „den“ Terroristen mit bekannten Überwachungsmethoden ohnehin nicht beizukommen ist, beschreibt neben vielen anderen der Schriftsteller John Lanchester. Auch ohne die Enthüllungen Snowdens war sich Bin Laden, immerhin der meistgesuchte Terrorverdächtige der Welt, der Überwachung so gewiss, dass er nicht einmal ein Festnetztelefon auf seinem Grundstück im pakistanischen Abbottabad duldete.
Gegen wen kann sich die Überwachung also nur richten, wenn alle „Bösen“ schon längst wissen, dass sie nur in der Masse untertauchen müssen, um nicht aufzufallen? Gegen wen? Wo wir anderen doch das selbe tun, und sei es nur, um bei der Urlaubsfahrt zum Grand Canyon nicht nach Europa zurückgeschickt zu werden. So bilden wir gemeinsam mit Verbrechern, Spionen und Hobbymusikern eine schöne homogene Gesellschaft ohne Abweichungen, ohne Reibung, ohne Dissens.
Welche Unterscheidungskriterien bleiben unseren Sicherheitsbehörden dann aber noch, um aus dem unendlichen Datenmaterial, das letztlich nur ein gleichförmiges Grundrauschen abgibt, Verdächtige herauszufiltern und so den gewaltigen Apparat zu rechtfertigen? Die Religionszugehörigkeit vielleicht? Die Hautfarbe? So füttern wir als Gesellschaft Geheimdienste und Sicherheitsapparate durch und verschwenden Milliarden für Technologien, die am Ende doch nur unsere Angst vor allen Anderen und Fremden bestätigen. Die Endstationen für diese Anderen heißen dann Guantanamo und Lampedusa.
Am idealen Gefängnis, der homogenen Spießerhölle inklusive Einreiseverbot für die Unerwünschten, können wir sicherlich billiger bauen als es NSA und BND tun. Teurer, aber einer freien Gesellschaft angemessener, dürfte es sein, das Licht in die Mitte des Panopticons zu richten und den Turm, der da steht, voll auszuleuchten – um ihn schließlich einzureißen. Darauf möchte man zwar keine 26 Jahre warten, aber manchmal ist Geduld eben alles.
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