Kommentar Münchner Flüchtlingsprotest: Die Angst vor dem Präzedenzfall
Verhungern in Deutschlands reichster Stadt. Das darf nicht sein. Deshalb hat die Polizei den Hungerstreik beendet. An der Lage der Asylsuchenden ändert sich nichts.
ber eine Woche haben die Asylsuchenden am Münchner Rindermarkt ohne zu essen ausgeharrt, ganze fünf Tage, ohne etwas zu trinken. Sie sind an die Grenzen des physisch Menschenmöglichen gegangen, denn ohne Flüssigkeit überlebt ein Mensch nur wenige Tage. Sie waren bereit zu sterben, um durchzusetzen, dass ihre Asylanträge sofort anerkannt werden.
Dem haben die Stadt München und die bayerische Staatsregierung nun ein Ende gesetzt. Nicht auf dem Verhandlungsweg, sondern durch einen Großeinsatz der Polizei. Stadt und Land wollten um jeden Preis verhindern, dass mitten in München, der reichsten Großstadt Deutschlands, jemand verdurstet. Die akute Lebensgefahr mögen die Behörden damit abgewendet haben. Nicht aber das grundsätzliche Problem, das Asylsuchende in Deutschland zu solch verzweifelten Schritten treibt.
Der Hungerstreik in München war nur der vorläufige Höhepunkt eines immer wiederkehrenden Phänomens: Im Sommer 2012 hatten iranische Flüchtlinge in Würzburg die Nahrungsaufnahme verweigert, um ihren Aufenthaltsstatus zu sichern und um gegen die Bedingungen ihrer Unterbringung zu protestieren. Und auf dem Oranienplatz in Berlin-Kreuzberg campieren nach wie vor Flüchtlinge aus ganz Deutschland. Sie fordern die Aufhebung der Residenzpflicht, die sie an den Ort ihrer Erstaufnahmeeinrichtung bindet. Außerdem verlangen sie schnelle Arbeitsmöglichkeiten und die Abschaffung von Gemeinschaftsunterkünften.
Diese Anliegen standen auch im Forderungskatalog der Streikenden in München. Was sie aber zuvörderst erreichen wollten, war die pauschale Gewährung von Asyl. Wäre die Politik auf diese Forderung eingegangen, sie hätte einen Präzedenzfall geschaffen, der alsbald Hunderte von Nachahmern provoziert hätte. Die rigide Reaktion war deshalb abzusehen.
ist Bayern-Korrespondentin der taz.
Menschen nicht als Last begreifen
Dennoch werden sich Bund und Länder ernsthaft Gedanken machen müssen, wie sie die untragbaren Zustände, unter denen Flüchtlinge hier leben, verbessern können. Dazu gehört an erster Stelle, diese Menschen nicht mehr nur als Last zu begreifen, als Schmarotzer, die man mit allen Mitteln loswerden muss.
Dazu gehört aber auch, dass sich Deutschland nicht länger darauf beruft, Asylanträge gar nicht erst prüfen zu müssen, weil die allermeisten Antragsteller aus einem sogenannten Drittland eingereist sind. Damit macht es sich Deutschland zu leicht. Die Mehrheit dieser Flüchtlinge ist bereit, sich in Deutschland aus eigener Kraft eine Existenz aufzubauen, wenn man sie nur ließe. Ohne diese Einsicht bleibt das Problem ungelöst, und Proteste wie der in München werden immer wiederkehren.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Stockender Absatz von E-Autos
Woran liegt es?
Erfolg gegen Eigenbedarfskündigungen
Gericht ebnet neue Wege für Mieter, sich zu wehren
Tod des Fahrradaktivisten Natenom
Öffentliche Verhandlung vor Gericht entfällt
Energiewende in Deutschland
Erneuerbare erreichen Rekord-Anteil
Klimaschützer zu Wahlprogrammen
CDU/CSU und SPD fallen durch, Grüne punkten nur wenig
Migration auf dem Ärmelkanal
Effizienz mit Todesfolge