Schriftstellerin über türkische Proteste: „Opposition ist der Geist der Zeit“
Die Schriftstellerin Gaye Boralioglu über Istanbul, die Politik Erdogans und die anhaltenden Proteste in den Parks des Landes.
taz: Gaye Boralioglu, Sie leben und arbeiten in Istanbul. Wie hat sich in Ihrer Wahrnehmung der Einfluss der AKP-Regierung in den vergangenen Jahren im Stadtbild bemerkbar gemacht?
Gaye Boralioglu: Ich bin hier geboren und aufgewachsen und habe eine wahnsinnige Leidenschaft, was diese Stadt betrifft. Dies ist ein Ort, an dem Märchen und die bitterste Wirklichkeit aufeinandertreffen. In den vergangenen Jahren musste Istanbul viele Verluste erleiden.
Überall stehen gigantische Einkaufszentren und ziellos erbaute Wolkenkratzer herum. Die Stadt hat keine grünen Flächen mehr und kaum Luft zum Atmen. Wir hielten die AKP für eine islamisch-konservative Regierung. Jedoch stellte sich heraus, dass sie Gottes größte Kapitalisten sind!
Was bedeutet das für die Stadtbewohner?
Die Regierung misst weder der Historie noch der Natur irgendeinen Wert bei. Jede freie Fläche wird als potenzielle Pacht betrachtet. Angeblich ist die AKP konservativ, aber sie verabscheut die Erinnerung der Gesellschaft. Sie vertritt eine widersprüchliche Haltung. Aus Istanbul würde die Regierung am liebsten ein neues Dubai machen. Und das ist eigentlich der größte Schaden den die AKP in Istanbul angerichtet hat: Sie haben uns unsere Erinnerung, unser Gedächtnis genommen.
Was für eine Stimmung herrscht in der Stadt seit Gezi-Park und Taksimplatz gewaltsam geräumt wurden?
Autorin: Geboren 1963 in Istanbul. Ist Literatin und zugleich Drehbuchautorin für populäre türkische TV-Serien wie „Bir Çocuk Sevdim“.
Roman: Im Frühjahr erschien auf Deutsch „Der hinkende Rhythmus“ im Berliner binooki Verlag.
Opposition ist der Geist dieser speziellen Zeit. In der alten linken Literatur galt hartnäckiger Trotz als Gebot der Stunde. Die neue Opposition jedoch trotzt nicht, sie ist flexibel aber entschlossen. Es geht ihr darum, sich zu schützen und gleichzeitig ein bisschen Spaß zu haben.
Nach jedem großen Angriff bricht auch eine Welle von Humor über uns herein. Der Staat wendet unverhältnismäßige Gewalt an, die Demonstranten dagegen ihren unverhältnismäßigen Intellekt. Der Premier, die AKP und die Polizei haben jede Sympathie verloren.
Aber die Absurdität der Umstände bringt Sie dennoch zum Lachen?
Auch. Erst heute las ich von diesem jungen Mann, dessen Haus die Polizei durchsuchte, weil er an den Gezi-Protesten teilgenommen hatte. In seinem Durchsuchungsbefehl standen die Namen von neun verschiedenen Organisationen, gegen die vorgegangen wird. Vor Gericht fragte der junge Mann dann: „Sie haben keine Organisation angekreuzt. Wie läuft das? Wählen Sie aus, zu welcher Organisation ich gehöre, oder darf ich mir jetzt eine aussuchen?“
Im einen Moment weinen wir um die Menschen, die bei den Protesten das Augenlicht oder gar ihr Leben verloren haben, im nächsten Moment geht eine Parole durch das Internet, über die wir in Lachen ausbrechen. Unser Gemütszustand wechselt wie Ebbe und Flut.
Finden in der Türkei noch täglich Proteste statt?
Ja, seit der Räumung des Gezi-Parks treffen sich die Menschen nun in den rund vierzig restlichen Parks von Istanbul und auch im Rest der Türkei, um zu diskutieren. Man denkt über langfristige Formen des Widerstands nach. Der Gezi-Park ist nun unter polizeilicher Überwachung, sie lassen niemanden rein, pflanzen irgendwelche Blumen. Das ist so unwirklich! Kürzlich bewarfen Demonstranten die Polizeipanzer mit Blumen. Die Antwort waren Wasserwerfer und Tränengas. So viel zur Blumenliebe des Staats.
Inwiefern haben Straßenproteste und Polizeigewalt Ihren persönlichen Alltag verändert?
Zunächst hat sich die Luft, die wir atmen, verändert. Statt Sauerstoff atmen wir Gas ein. Die Polizei hat bis heute 130.000 Gaspatronen verschossen. In meiner Handtasche befanden sich früher Lippenstift, Taschentücher und eine Sonnenbrille. Heute trage ich eine Gasmaske, ein Flasche mit Talcid-Lösung und eine Taucherbrille mit mir. Früher gingen die meisten Nachbarn gegen Mitternacht schlafen. Heute sind viele bis in die Morgenstunden auf den Straßen. Das sind natürlich nur die sichtbaren Veränderungen.
Und was sind die unsichtbaren Veränderungen?
Es herrscht Revolutionsstimmung. Ich gehöre zu der Generation, die die Militärputsche miterlebt hat und bis vor Kurzem sehr hoffnungslos war. Wir bedauerten, dass wir in diesem Leben keinen Aufstand erfahren konnten. Wir dachten, die heutige Jugend sei apolitisch. Nun stellt sich heraus, dass die jungen Menschen sich hinter ihren Computern mit kräftigem Humor, sensiblem Gerechtigkeitssinn und strahlendem Verstand auf diesen Aufstand vorbereitet hatten.
Wenn sie es jetzt schaffen, weiterhin entschossen zu sein, ist diese Jugend das Beste, was uns je passieren konnte. Aber natürlich demonstrieren nicht nur junge Menschen. Ich habe im Gezi-Park Menschen jeden Alters, jeder Herkunft und jeder sozialen Schicht getroffen. Man kann also durchaus von einem Volksaufstand sprechen. Das macht große Hoffnung.
Als Drehbuchautorin haben Sie für Serien gearbeitet, die von regierungsnahen Fernsehsendern produziert wurden. Wie konservativ sind die türkischen Medien heute?
Bis vor Kurzem habe ich tatsächlich mein Leben lange Zeit als Drehbuchautorin finanziert. Mit Literatur allein kann man in der Türkei lediglich im Gezi-Park überleben, wo das Geldsystem für über zwei Wochen erfolgreich abgeschafft wurde. Ich habe mich bemüht, mit einer gewissen Sorgfalt und Moral im Mainstream zu existieren, um möglichst viele Menschen zu erreichen.
Aber tatsächlich sind die türkischen Medien zuletzt in kürzester Zeit immer konservativer geworden. Kritische politische Inhalte gehen grundsätzlich nicht, Geschichten über ethnische Minderheiten sind verboten, Sexualität ist verboten. Es ist sogar verboten, dass Figuren rauchen oder Alkohol trinken.
Die Verbote sind nicht festgeschrieben. Doch weigern sich die Verantwortlichen, gewisse Ideen und Vorstellungen zu produzieren. Es gibt keinen Raum, um interessante Geschichten zu erzählen. Die TV-Serien wiederholen sich ständig. Letztlich habe ich dann aufgegeben. Solange sich bestimmte Bedingungen nicht verändern, werde ich in diesem Bereich nicht mehr arbeiten.
Viele Beobachter befürchten nach den großen Protesten eine Zweiteilung der türkischen Gesellschaft, wie sehen Sie das?
Die neue Oppositionsbewegung grenzt niemanden aus. In dieser Hinsicht pflegen alle derzeit einen sensiblen Umgang untereinander. Selbst Islamisten nehmen an den Protesten teil und kritisieren die AKP. Die Regierung hingegen – und an erster Stelle Präsident Erdogan – versucht mit allen Mitteln die Opposition zu denunzieren.
Erdogan behauptet immer wieder, die Demonstranten hätten eine Moschee gestürmt und dort Alkohol getrunken. Dabei hatte der Imam in einer Moschee eine Verbandsstelle für verletzte Demonstranten eingerichtet und persönlich erklärt, dass keiner Alkohol getrunken habe. Nun ist der Imam nicht mehr im Dienst.
Die Spaltung der Gesellschaft existiert nur in der Rhetorik der AKP?
Eine Spaltung ist das offenkundige Ziel der Regierung. Durch haltlose Beschuldigungen soll die Opposition diskreditiert werden. Bei seinen Versammlungen lässt Erdogan Künstler und Intellektuelle vom Publikum ausbuhen. Er sagt, nur mit Mühe halte er den Zorn der 50 Prozent des Volkes – also seiner Wähler – in Zaum. Diese Provokationen empfinde ich als Anstiftung zum Krieg.
Die Opposition bemüht sich, die AKP-Wähler zu verstehen und mit ihnen zu kommunizieren. In den Reihen der AKP hingegen herrscht – abgesehen von ein paar Leuten, die mit Schlagstöcken auf Demonstranten losgingen – absolutes Schweigen. Ich denke, dass die meisten sich schämen, dass sie diese Männer an die Macht gebracht haben.
Im Nachgang der Gezi-Proteste werden nun viele engagierte Leute unter Terrorverdacht festgenommen. Glauben Sie, dass die Regierung so den Widerstand eindämmen kann?
Möglich. In der Geschichte haben wir gesehen, welch furchtbare Methoden die Regierung entwickelt, wenn es um drohende Aufstände geht. Der wahre Charakter der Regierung und, im Unterschied dazu, der der Opposition ist offenkundig. Die Opposition ist für friedliche Methoden. Höchstens wird mal eine Gaspatrone durch einen Fallrückzieher zurückgeschossen.
Wir haben außer unseren Körpern und unseren Verstand keine Waffen. Auf der anderen Seite versucht die Regierung mit allen Mitteln ihre Macht zu erhalten. Dieser Konflikt kann noch sehr lange dauern. Der im Gezi-Park geborene Widerstandsgeist ist mit nichts, was wir vorher kannten, zu vergleichen.
Nun, da wir es einmal geschafft haben, den Regierenden Angst einzujagen, ist der Widerstand nicht so leicht einzustampfen. Dieses Ereignis wird nämlich niemals vergessen werden. Während sich die Regierung für den einzig wahren Richter des Landes hielt, hat sich quasi aus dem Gebüsch heraus ein ganzes Heer mobilisiert. In der Türkei wird nichts mehr so sein, wie es einmal war. Wenn der Triumph unser Ziel war, so finde ich, haben wir gesiegt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nahost-Konflikt
Alternative Narrative
Putins Atomdrohungen
Angst auf allen Seiten
James Bridle bekommt Preis aberkannt
Boykottieren und boykottiert werden
Stromversorgung im Krieg
Ukraine will Atomkraft um das Dreifache ausbauen
Umweltfolgen des Kriegs in Gaza
Eine Toilettenspülung Wasser pro Tag und Person
Krise der Linke
Drei Silberlocken für ein Halleluja