Kriegsverbrechen in Syrien: Die „Geist“-Folter kennt jedes Kind
„Bestrafung“ wie im Mittelalter: Der saudische Botschafter spricht in der UN-Vollversammlung von „Foltermethoden, die das übersteigen, was Menschen sich vorstellen können“.
ISTANBUL dpa | Syrien gleicht einem Schlachthaus: Videoaufnahmen zeigen, wie Angehörige der Regierungstruppen einem Mann erst den Penis abtrennen und dem Röchelnden dann mit einem Stock im Mund herumstochern. Ärzte haben Folteropfer fotografiert, denen Zehen und Finger fehlten. Menschenrechtler verfügen über Aufnahmen von Gefangenen, die von regimetreuen Milizen mit Messern gestochen oder so lange mit Füßen getreten werden, bis sie Präsident Baschar al-Assad loben.
Streckbänke und andere Folterwerkzeuge, die in den Verhörzentren der Geheimdienste gefunden wurden, erinnern an die Ausstattung eines mittelalterlichen Kerkers. Ein in die Türkei geflohener früherer Mitarbeiter des regimetreuen TV-Senders Al-Dunia berichtet von einem Ofen, in dem ein Kommandeur, der auch in mehreren Berichten von Human Rights Watch als Folterer genannt wird, Oppositionelle verbrannt haben soll.
Dass in Syrien besonders viele Kriegsverbrechen verübt werden, hat auch damit zu tun, dass in Damaskus seit Jahrzehnten ein Regime herrscht, in dem Folter systematisch eingesetzt wurde, um Oppositionelle einzuschüchtern und den Rest der Bevölkerung in Schockstarre zu halten. Der saudische Botschafter Abdullah al-Muallimi sprach in einer Sitzung der UN-Vollversammlung zu Syrien in der vergangenen Woche von „Foltermethoden, die das übersteigen, was Menschen sich vorstellen können“.
Fragwürdige Erziehungsmethoden
Wie die „Geist-Folter“ funktioniert, bei der Häftlinge stundenlang mit Handschellen an der Decke aufgehängt werden, weiß in Syrien jedes Kind. Was als Kriegsverbrechen gilt, wissen dagegen nur die wenigsten Syrer. Wie tief das in die Gesellschaft eingedrungen ist, zeigen fragwürdigen Erziehungsmethoden in einigen Familien.
„Als mein kleiner Bruder und ich beim Spielen einmal den Kühlschrank umgeworfen hatten, umwickelte mein Vater unsere Finger mit Draht und drohte uns, den Draht in die Steckdose zu stecken“, erinnert sich ein junger Intellektueller aus Damaskus.
Rami Abdel Rahman, Leiter der in London ansässigen Organisation Syrischer Menschenrechtsbeobachter, hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Gräueltaten in seinem Heimatland zu dokumentieren, unabhängig davon, wer sie verübt hat. Das hat ihm die Kritik von Oppositionellen eingebracht, die der Meinung sind, dass man die Grenzüberschreitungen der Rebellen nicht publizieren sollte, „weil sie traumatisierte Opfer der Gewalt des Regimes sind, die nur reagieren“.
Auch Rebellenkommandeur Chalid al-Hamad aus Homs versucht, seine Grausamkeiten so zu rechtfertigen. Als in der vergangenen Woche eine Welle der Empörung über ihm zusammenschlug, weil er sich dabei filmen ließ, wie er in das Herz eines getöteten Soldaten biss, verwies er auf Videoaufnahmen von Misshandlungen, die er auf den Mobiltelefonen von Angehörigen der Regierungstruppen gesehen hatte.
In den Online-Diskussionsforen der Regimegegner entbrannte daraufhin eine hitzige Debatte. Einige Syrer sehen in der Leichenschändung die verzeihbare Folge einer Regierungspolitik der Grausamkeit, während andere der Meinung sind, dass man im Kampf gegen ein brutales Unterdrückerregime nicht dessen Methoden übernehmen dürfe.
40.000 mal Danke!
40.000 Menschen beteiligen sich bei taz zahl ich – weil unabhängiger, kritischer Journalismus in diesen Zeiten gebraucht wird. Weil es die taz braucht. Dafür möchten wir uns herzlich bedanken! Ihre Solidarität sorgt dafür, dass taz.de für alle frei zugänglich bleibt. Denn wir verstehen Journalismus nicht nur als Ware, sondern als öffentliches Gut. Was uns besonders macht? Sie, unsere Leser*innen. Sie wissen: Zahlen muss niemand, aber guter Journalismus hat seinen Preis. Und immer mehr machen mit und entscheiden sich für eine freiwillige Unterstützung der taz! Dieser Schub trägt uns gemeinsam in die Zukunft. Wir suchen auch weiterhin Unterstützung: suchen wir auch weiterhin Ihre Unterstützung. Setzen auch Sie jetzt ein Zeichen für kritischen Journalismus – schon mit 5 Euro im Monat! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Kanzler Olaf Scholz über Bundestagswahl
„Es darf keine Mehrheit von Union und AfD geben“
Weltpolitik in Zeiten von Donald Trump
Schlechte Deals zu machen will gelernt sein
Einführung einer Milliardärssteuer
Lobbyarbeit gegen Steuergerechtigkeit
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Trump macht Selenskyj für Andauern des Kriegs verantwortlich
Wahlarena und TV-Quadrell
Sind Bürger die besseren Journalisten?
Emotionen und politische Realität
Raus aus dem postfaktischen Regieren!