zwischen den rillen : Rockopernd: Lou Reed und seine Edgar-Allan-Poe-Vertonung „The Raven“
Was Lisa sagt
(Ouvertüre. Eine gewaltige Kakophonie aus Gitarren, Schlagzeug und Saxofon: Achtung, Großstadt! Achtung, Gegenwartsbezug!)
Lisa sagt, bist du verrückt geworden?! Lisa sagt, ich will am Sonntagmorgen nicht solche Musik zum Frühstück hören. Was ist das überhaupt: „Lou Reed vertont Edgar Allan Poe, neu gelesen und überarbeitet“? Damit haben sich in den Siebzigern doch schon Alan Parsons Project lächerlich gemacht. Lisa sagt, Edgar Allan Poe war doch damals schon so pubertär, so Hermann Hesse, oder?
Lisa sagt, gab es da nicht auch schon dieses unselige Robert-Wilson-Projekt für das Hamburger Thalia-Theater? Lisa sagt, „POEtry“! Allein schon dieses Wortspiel! Und jetzt auch noch „The Raven“!
Lisa sagt, was singt der denn da? … Edgar Allan Poe, not exactly the boy next door?, oder Who am I? Who made the trees, who made the sky … Lisa sagt, ist das ein Hörspiel für Kinder oder was?
Lisa sagt, wahrscheinlich geht es Lou wieder mal um die Abgründe in der Natur des Menschen, „Obsessionen, Paranoia, gewollte Akte der Selbstzerstörung, die uns täglich umgeben“. Lisa sagt, wenn ich schon diesen Klappentext lese.
Lisa sagt, und das ist ja wohl die schlechteste Version von „Perfect Day“, die ich jemals gehört habe, Pavarotti inklusive.
Lisa sagt, das klingt alles wie …
(Kleine Binnenerzählung: Man stelle sich vor: Lou Reed und seine Kumpels Robert, Mike, Fernando und die anderen haben ihre Smalltown nie verlassen. Heute sind sie alle Lehrer an der kleinen Highschool dort. Unterrichten Fächer wie Literatur und Gemeinschaftskunde, tragen immer noch schwarze Lederhosen unter einem zunehmend größer werdenden Bierbauch und treffen sich einmal die Woche zum Rocken. Lou, einst ein androgyner Drogendandy – es gibt da so Gerüchte in der Kleinstadt –, geht inzwischen regelmäßig mit den Footballern in die Muckibude und ist in seiner Lehrerband immer noch der Anführer.
Einmal im Jahr lassen die idealistischen Hobbymusiker sich was einfallen und führen eine kleine, na ja, Rockoper in der Schulaula auf, „für die Kids“. Die Mütter dürfen natürlich auch mitkommen. Das ist jedes Mal eine große Sache in der kleinen Stadt, auch wenn es wieder ganz schön laut geworden ist, mit den ganzen Gitarren und so. Denn, klar, Lou und seine Freunde sehen zwar allmählich der Pensionierung entgegen, aber angepasst, hey, angepasst sind sie immer noch nicht. Hinterher klatschen alle begeistert Beifall. Toll, was die sich wieder haben einfallen lassen! Und Lou, der Anführer, Lou, die alte Rampensau, kommt noch mal für ’ne Solozugabe auf die Bühne.)
… Lisa sagt, genauso klingt dieses Album.
Lisa sagt, und dass da aber auch wieder alle mitmachen mussten, diese ganze Theater-Jazz-Mischpoke, sogar der olle Ornette Coleman. Und Willem Dafoe und Steve Buscemi, der die Veranstaltung mit seinem „Broadway Song“ sogar beinahe noch rettet.
Lisa sagt, und wie muss sich eigentlich David Bowie vorkommen? Der darf genau eine Minute und 47 Sekunden mitsingen, bemüht sich, wie Lou zu klingen, und wird anschließend trotzdem vom Meister gnadenlos in den Hintergrund gemischt, weil der sich lieber mit seinen eigenen Backing Vocals im Vordergrund hören möchte.
Lisa sagt, wann fing das eigentlich an, dass es mit Lou so bergab ging: als er allein mit seiner Gitarre bei Wim-Wenders-Filmen in Hotelzimmern saß? Oder als er erstmals seine Songtexte als Gedichtband herausgab? Oder als er mit Laurie Anderson zusammenkam?
Lisa sagt, Laurie Anderson! Mit dieser Kunst-… hätte Lou nie was anfangen dürfen! Seitdem ist er ja nur noch eine Comicfigur im Pop-Kunstgewerbe. Und das Coverartwork musste natürlich der dicke Julian Schnabel machen, von dem Lou sich dann auch noch in Badelatschen und mit Schwert fotografieren lässt!
Lisa sagt, von seiner sozialen Wut ist nur ein Gedicht geblieben, das Amanda Plummer leise flüstert: Businessmen, you are not worth shitting on. – Wenn er doch nur halb so gut Musik machen würde, wie er Interviews gibt. Und ist er nicht gerade sechzig geworden?
Lisa sagt, mach das jetzt endlich aus.
– Lou meinte: „Jemand anders hätte ihr beide Arme gebrochen“ („Sad Song“).
(Abspann: Lou sehnt alleine zur Akustischen seinen „Guardian Angel“ herbei – das Ende?)
ANDREAS MERKEL
Lou Reed: „The Raven“ (Sire/Reprise/Warner Records)