zwischen den rillen : Du bist nicht allein
Der Hamburger Techno-Produzent Lawrence setzt im tiefen Tal der Tränen den Maßstab: Mit „The Absence Of Blight“ hat er das definitiv schönste Album zum aktuellen Trend „Runterkommen und unten bleiben“ produziert
Rien ne vas plus: So leer sind dieser Tage die Köpfe, Konten und Kaffeehäuser, dass die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung die Depression zur entscheidenden kulturellen Metapher der Gegenwart erklärt. Wer sollte ihr widersprechen? Robbie Williams gewiss nicht, der laut Gala täglich 270 mg Trevilor benötigt, Boris Becker nicht, der seine Exklusiv-Existenz erklärtermaßen nur mit Antidepressiva erträgt, und erst recht kein Sebastian Deisler und kein Jan Simak.
Auch am anderen Ende des Einkommensspektrums darf man keinen Einspruch erwarten: Hört man sich unter Kollegen um, gewinnt man zum Jahresende verstärkt den Eindruck, taz-Autoren könnten bei Berliner Psychotherapeuten einen anständigen Gruppenrabatt herausschlagen. Die Tage sind grau, die Nächte schwarz, und am Horizont geht es schon lange nicht mehr weiter. Kein neuer Tag, ein neuer Grauton ist es, der den modernen Menschen nach einer standesgemäß schlaflosen Nacht erwartet.
Gerade in „Clubland“, wo die Nächte noch weit schlafloser sind als anderswo, leckt man sich zurzeit verstärkt die Wunden. Nicht das in den letzten Jahren mantrahaft ausgerufene Ende der Clubkultur ist es, das auf die Stimmung drückt. Im Gegenteil: die weithin unbemerkte Aufbruchstimmung in Techno-Deutschland scheint hinter verschlossenen Türen, auf After Hours und After After Hours, in Friedrichshainer Dreckslöchern wie auf ibizenkischen Fincas derart exzessiv gefeiert worden zu sein, das nun erst einmal ein ausgedehntes Katerfrühstück ansteht. Derart manisch wurde an der Hedonismusschraube gedreht, dass nach all den Bergen Koks, Speed, MDMA sowie den neuen Clubdrogen Ketamin und JHB, die den einschlägigen Partys zuletzt einen gruselig hysterischen Anstrich verliehen, Runterkommen das Stichwort der Stunde ist; medikamentös wie musikalisch.
Eine Grundkonstellation, die elementare Fragen aufwirft: Macht Drogensucht auf lange Sicht melancholisch, oder treibt einen die ewige Melancholie zwangsläufig in die Drogensucht? Wir wissen es nicht und wagen auch nicht zu beurteilen, inwieweit die Fragestellung dem Lebenswandel des Mannes angemessen ist, der als Lawrence das definitiv schönste Album zum aktuellen Trend „Runterkommen und unten bleiben“ produziert hat. Was wir mit einiger Sicherheit sagen können: dass Peter M. Kersten, wie er in Hamburg gemeldet ist, ein ausgemachtes Kind von Traurigkeit ist, ein Mann, dessen Horizont mit von Liebeskummertränen voll gesogenen Wolken verhangen ist, ein erklärter Linker und Rote-Flora-Aktivist, den selbst das Ende der Schill-Ära nur kurz aus seiner Schwermut reißen konnte, kurz: einer, gegen den Nick Drake, Leonard Cohen oder Robin Proper-Sheppard als wahre Spaßkanonen durchgehen.
Ob es die Drogen sind, das Leben an sich oder nur das Hamburger Wetter, das einen derart zartbitteren Schatten auf sein Gemüt wirft: Sein wunderschöner Satz, er liebe Hamburg, weil der ewige Nieselregen einem das Gefühl gebe, man hätte gerade geweint, lässt zumindest alle drei Schlüsse zu.
Wenn man es dann hört, sein zweites, auf seinem eigenen Label Dial veröffentlichtes Album „The Absence Of Blight“, so fühlt man sich selbst ein bisschen, als hätte man gerade geweint. Seine sachte geschichteten Flächen, seine an- und abschwellenden Streicher in Moll, geerdet von einem entrückt pumpenden Beat-Skelett, lassen selbst Menschen in Liebeskummer schwelgen, die bis dato dachten, in einer glücklichen Beziehung zu leben. So viel Würde liegt in Lawrence’ Trauer, dass man einfach mitmuss: eine Art All-in-one-Melancholie; weinen, Tränen trocknen, die Beruhigungszigarette danach, alles ist inklusive.
Musik, die am Ende einer kaputten Nacht die Sehnsucht nach einem besseren Leben weckt und am Ende einer kaputten Beziehung immerhin noch funktionieren dürfte wie ein Lieblingsschal auf einem kalten Waldspaziergang.
„Heul doch!“, könnte man nun einwerfen und sich den erfreulicheren Dingen des Lebens widmen. Doch schon ein kurzer Blick in die Plattenfächer der House- und Technohändler zeigt: Lawrence ist nicht allein. Eine Heerschar von Produzenten scheint hierzulande an einem Punkt angelangt zu sein, an dem Nicht-mehr-drauf-Kommen und Runterkommen in ein grundsätzliches Anders-drauf-Kommen münden. An dem sich Verspultheit und Weltschmerz alle fünfe geben, so lange und so virtuos, bis Depeche-Mode-Mastermind Martin L. Gore seinen Remix eben nicht mehr in New York bestellt, sondern, wie gerade geschehen, dort, wo man sich ständig fühlt, als hätte man geweint. Das Jahr, in dem Techno Trauer trägt, es steht uns noch bevor: Im Tal der Tränen setzt Lawrence den Maßstab. CORNELIUS TITTEL
Lawrence: „The Absence Of Blight“ (Dial/Kompakt)