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Archiv-Artikel

zwischen den rillen Der schöne Wahn eigener Größe

Große Entwürfe brauchen viel Platz zur konzeptionellen Entfaltung: Neue Doppel-CDs von R. Kelly und Nelly

Größenwahn kann sich zu einem wirklichen Problem auswachsen, selbst wenn man Superstar ist und somit schon qua Berufsbild größenwahnsinnig. Man kann mit einiger Sicherheit davon ausgehen, dass in R. Kellys Management die Hände über den Köpfen zusammengeschlagen wurden, als er ihnen sein neuestes Alias präsentierte. Ist es doch für jemanden, der unter dringendem Verdacht steht, Sex mit einigen deutlich minderjährigen Mädchen gehabt zu haben, nicht die glücklichste Idee, sich mit The Pied Piper ausgerechnet nach der Märchenfigur zu benennen, die mit der schieren Verführungskraft ihrer Flöte einige dutzend Kinder in den Abgrund lockte.

Doch solcherlei marketingorientierte Zweifel dürften R. Kelly fremd sein. Ist er nicht der größte Verführer aller Zeiten? Und nimmt er nicht das Leid, das mit dieser Gabe einhergeht, auch noch auf seine Schultern? Ist er mit dieser gespaltenen Persönlichkeit deshalb nicht im Grunde zu zweit? Kann er also nicht alleine das machen, was das Duo Outkast im vergangenen Sommer auch schaffte: eine Doppel-CD herausbringen, die das ganze Drama in der einzig angemessenen Größe (und Länge) durchspielt? „Happy People/U Saved Me“: Samstagnacht, Club, Abgrund auf der einen Seite, Sonntagmorgen, Kirche, Errettung auf der anderen?

R. Kelly kann es, aber er gibt dabei einiges auf. Natürlich ist „Happy People/U Saved Me“ eine großartige Platte. Sie lebt wie fast alles, was der wohl größte Soul-Künstler der Gegenwart bisher veröffentlicht hat, von seiner Fähigkeit, bestimmte Elemente aus der Geschichte des Soul so in die Gegenwart zu transponieren, dass sie gleichzeitig geschichtsmächtig und radikal zeitgenössisch klingen. Seien es rhythmische Anspielungen oder schlicht der Umstand, dass er für ein gut Teil der Streicher-Arrangements Larry Gold beauftragte, der diesen Job in den Siebzigern schon für die Hitmaschine von Philadelphia International versah. Stücke wie „Love Signals“, „Happy People“ oder „Red Carpet“ gehören zu dem Besten, was R. Kelly je eingespielt hat.

Das Problem von „Happy People/U Saved Me“ ist nur, dass thematisch zwischen Verführung und Errettung relativ wenig möglich ist. Immer war es R. Kellys Stärke, zwischen diesen beiden Polen Platz schaffen zu können, für Stücke, die diese Großthemen herunterbrachen auf normal menschliche Größe, auf Beziehungen zu anderen Menschen. Damit ist es nun vorbei. Es gibt nur noch R. Kelly und seine Verfehlungen, die er vor niemandem mehr zu verantworten hat als der einzigen Instanz, mit der er auf Augenhöhe kommunizieren kann: dem lieben Gott.

Auch wenn er ihm in Größenwahn kaum nachsteht, ist der Rapper Nelly im Unterschied zu R. Kelly eine vergleichsweise blasse Figur. Wo Ersterer seine Miete durch sein Ringen mit den großen Fragen bestreitet, reichte es Nelly lange Jahre, mit einem Pflaster im Gesicht herumzulaufen. Dementsprechend unterscheiden sich die zwei Alben, die er nun parallel herausgebracht hat, auch nicht entlang von metaphysischen Entwürfen, sondern nur durch die Wahl der Bekleidung: Nach dem Anzug ist das eine benannt („Suit“), nach der Sportswear das andere („Sweat“) – wobei Anzug und Sportswear für die zwei möglichen Nelly-Modi stehen: die leicht angepimpte Rap-Ballade und das bouncende Uptempo-Stück.

Nelly ist kein wirklich brillanter Rapper – im Grunde unterscheidet ihn von seinen Kollegen nur sein zum Markenzeichen avancierter Südstaaten-Akzent, der ihn ein Wort wie „here“ als „huur“ aussprechen lässt, oder eine Eigenart, die er auf so gut wie alle ähnlich klingenden Worte ausdehnt, „thuur für there“, aber auch „mohuur knitwuur“ für seine Klamotten aus teurer Wolle. So ist er auf Gedeih und Verderb seinen Produzenten ausgeliefert. Und die leisten zumindest auf „Sweat“ ganze Arbeit. Das Neptunes-produzierte „Flap Your Wings“ ist ein so sicherer Überhit wie das auf der „Superfly“-Basslinie aufgebaute „Tilt Ya HeadBack“. TOBIAS RAPP

R. Kelly: „Happy People/U Saved Me“ (BMG)Nelly: „Suit“, „Sweat“ (Universal)