zwischen den rillen : Ornette Coleman beginnt sein Alterswerk
„Sound Grammar“ ist das erste Album des Soundrevolutionärs seit zehn Jahren: weise, bezaubernd, radikal
Der Titel irritiert, das Cover auch. Die Grammatik des Klangs und jene regenbogenfarbene Frequenzsymbolik dazu mögen Statik und Gültigkeit suggerieren – doch gerade danach hört sich die lang erwartete Ornette Coleman-CD nicht an. Auf dem Cover seines 1995er Prime-Time-Albums „Tone Dialing“ war noch ein lustiges Telefon mit zehn farbigen Tasten zu sehen gewesen, und die Musik klang streckenweise so, als liefen zwei verschiedene Platten zugleich. Seine Duo-CD mit dem Pianisten Joachim Kühn, „Colors“, beim Leipziger Jazzfestival vor zehn Jahren aufgenommen, wirkte in sich ruhend – harmonisch und melodisch auf einer gekonnt konstruierten Metaebene. Diese vor „Sound Grammar“ letzte Neuveröffentlichung erhielt 1998 den Preis der Deutschen Schallplattenkritik, die Urkunde hängt eingerahmt in Colemans New Yorker Studio.
In der Zwischenzeit gab es immer mal Gerüchte über neue Platten – grob gestreut von seinem Sohn, Schlagzeuger und Studiomanager Denardo Coleman. Auch Joachim Kühn berichtet von zahlreichen Tapes, die im Laufe der Jahre bei gemeinsamen Proben im Harmolodic-Studio entstanden. Doch Vertriebsprobleme und höchste Ansprüche an die Farbe Rot – in der Harmolodic-Sprache das Synonym für Qualität – mögen diese fast zehnjährige Veröffentlichungspause bewirkt haben. „Sound Grammar“ nun ist das Alterswerk des großen Soundrevolutionärs: weise, bezaubernd, radikal.
Ornette Coleman hat das Konzept der „Harmolodics“ entworfen: Raus aus den Konventionen der musikalischen Praxis, keine Schemata für den harmonischen und rhythmischen Aufbau, als Slogan: „Remove The Caste System From Sound“. Dass der von ihm angezettelte Aufstand im Jazz auch mit den gesellschaftlichen Verhältnissen korrespondierte, liegt nahe. Doch auch wenn Coleman einst mit seinem Album „Free Jazz“ einer musikalischen Bewegung den Namen gab, hat „Sound Grammar“ nichts mit Kaputtspiel oder Traditionsbruch zu tun. Coleman hat immer wieder betont, dass er nicht als Jazzmusiker in die Geschichte eingehen möchte, sondern als ein Komponist, der alle Grenzen überwinden konnte.
Coleman gehört für Wynton Marsalis zur Tradition des Jazz, doch dadurch hat er sich nicht beirren lassen. Marsalis hat Coleman in jüngster Zeit wiederholt gebeten, bei Jazz at Lincoln Center aufzutreten, doch der lehnte immer ab. Er sei nicht an Restriktionen interessiert, sagt Coleman – und so klingt gerade „Sound Grammar“ in seiner Bluesbetontheit ungewohnt befreit. Vom Hören zum Empfangen durchläuft man gemäß der harmolodischen Klang- und Farbengrammatik ein Auf und Ab von Berührung, Gegenwart, Aktion, Qualität, Sicht, Geschmack und Geruch – theoretisch zumindest. Praktisch beginnt die CD mit der Ansage der aufführenden Musiker durch den Produzenten, Coleman-Cousin und Hüter seiner Mundstücke, James Jordan.
Das „neue“ Quartett mit Greg Cohen und Tony Falanga, Bässe, Denardo Coleman, Schlagzeug, und Ornette Coleman, Altsaxofon, Geige und Trompete, hatte 2003 in New York Premiere. In seinem leuchtend hellblauen Anzug, mit einem dezenten dunklen Hut, gelegentlich an einer Seite mit roten, grünen und gelben Federn dekoriert, und einem weißen Altsaxofon im Plastiklook betritt Coleman in den letzten Jahren die Bühne und erntet Standing Ovations – so ist es in der New Yorker Carnegie Hall, und ein bisschen so war es auch bei seinem Konzert am 14. Oktober 2005 in Ludwigshafen beim Enjoy-Jazzfestival, wo „Sound Grammar“ live aufgenommen wurde.
Anders als bei seinem diesjährigen New Yorker Festivalauftritt in der Carnegie Hall, der wegen der scheinbar unüberwindbaren Soundprobleme das Level Rot um Längen verfehlte, gelang in Ludwigshafen der Spagat, die verstärkte Band in einer für klassische Musik konstruierten Halle aufführen zu lassen. Obwohl die Aufregung im Vorfeld auch hier entsprechend groß war – schließlich gelang es dem fluchenden Tontechniker während der fünfstündigen Bandprobe, die technischen Voraussetzungen für die Colemansche Soundgrammatik zu koordinieren.
Obwohl Coleman immer wieder betont, dass er sich nicht wiederholen möchte, spielt er auf „Sound Grammar“ auch Klassiker wie seinen Blues „Turnaround“ und den Titelsong des vor 20 Jahren erschienenen Album „Song X“. Kaum zu glauben, wie ausdrucksstark und präsent der kleine, hagere Mann seine originären Sounds in ein großes Gefühlsgebirge verwandeln kann, das schön aussieht und frisch duftet. Zum Zeitpunkt der Aufnahme war Coleman schon 75, und aus nächster Nähe betrachtet möchte man sich eher um die Gesundheit dieses einzigartigen Musikers und Komponisten sorgen. Coleman hat sehr viel Zeit und Energie darauf verwendet, gegen die ihm zugeschriebenen Kategorien anzukämpfen, das so „gewonnene Terrain“ will er heute keinesfalls aufgeben. Es gab Jahre, da weigerte sich Coleman, seine bekannteste Komposition, „Lonely Woman“, öffentlich aufzuführen. Das hat sich geändert, in Ludwigshafen spielte er die schöne Ballade als Zugabe. Auf der CD fehlt sie jedoch.
CHRISTIAN BROECKING
Ornette Coleman: „Sound Grammar“ (Sound Grammar/NRW)