zusammenbruch der zivilisation:
von FRANK SCHÄFER
Schön war die Zeit, damals, als deren jetziger „Editor-at-Large“ – was das jetzt wieder heißt? – Dr. Theo Sommer uns diese komplizierte Welt noch in kleinen Sentenzen und Spruchweisheiten portionierte und so all die Probleme ein wenig handhabbarer machte. „Der Firnis der Zivilisation ist dünn!“ lautete so ein wunderbarer Merksatz. Und, fürwahr, den habe ich mir gemerkt!
Sofort kam er mir in der Sinn, als frühmorgens ein Geschöpf mich Halbwachen aufgeregt rüttelte: „Du, es kommt kein Wasser aus der Dusche, hast du da irgendwie dran gedreht?“ Ich hatte nicht dran gedreht, hätte auch gar nicht gewusst, woran, wartete noch eine kleine, wunderschöne Weile, schnellte dann aber mit einigem Ach und Weh hoch und schlüpfte in meine Sachen. Auf dem Weg zum Bad überkam mich eine tiefe Verzweiflung, wie sie mich manchmal überkommt früh am Morgen, wenn die Welt eben noch nicht in Ordnung ist. Ich sah mich für den Rest meiner Tage mit einem mächtigen, massiveichenen Tragebalken über den Schultern Wassereimer in den dritten Stock schleppen. Und man kann nicht sagen, dass es mich beruhigte, als ich dem Geraune im Hausflur entnahm, dass die anderen „Parteien“ ebenfalls ohne Kaffee und als ungewaschene Trolle das Haus verlassen mussten. Auch der Anruf beim Klempner unseres Vertrauens hob die Stimmung keinesfalls. „Das kann dauern. Die ganze Weststadt hat kein Wasser“, raunte er mit einem bedrohlichen Timbre, wie es sonst nur die Unholde in James-Bond-Streifen tun.
Ich hätte heulen können, und in diesem Moment hasste ich Dr. Theo Sommer und sein wohlfeiles Menetekel. Aber das Geschöpf streichelte sanft meinen Kopf. „Ach, dann wasche ich meine Haare eben mit Trockenshampoo, und Kaffee kochen wir mit Apollinaris.“ Es sollte also doch noch ein schöner Tag werden. Fünf Minuten später lief auch das Wasser wieder.
Am frühen Nachmittag dieselte ich zur Post, um mal wieder eine Austrittserklärung an die Wissenschaftliche Buchgesellschaft zu schicken. Nicht dass ich glaubte, ich könnte damit auf einmal Erfolg haben, es war reine Gewohnheit. Die nette ältere Schalterdame zeigte heute Anzeichen von Unlust, und ich sah auch gleich, weshalb: Sie leckte und leckte, aber die Briefmarke wollte nicht halten. „Naaa“, versuchte ich sie aufzuheitern, man hat ja auch gewisse Pflichten als Kunde, „haben die wieder an der Gummierung gespart?“ – „Aaach“, ihr rechter Mundwinkel verzog sich unschön vor so viel Ekel und Verachtung, „ich weiß auch nicht, was das ist, seit November kleben die Marken nicht mehr. Ob das an der Luft liegt?“ – „O weh“, konnte ich nur mitleidig klagen. „Jaja, wenn das so weitergeht, habe ich meinem Vorgesetzten auch schon gesagt, müssen wir an alle Schalter Pritt-Stifte verteilen.“ Aber da winkte sie auch schon ab: „Ist natürlich kein Geld für da. Vorher müsste man hier erstmal die Decke machen, sehen Sie, da oben in der Ecke platzt ja schon der Putz ab.“ – „Tja, der Firnis ...“, wollte ich ansetzen, beschloss dann aber, diesen Blödsinn endlich zu vergessen!
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