zehn jahre zeitzeugenbörse : „Jeder hat es auf seine Art erlebt“
Wenn es die ZeitZeugenBörse nicht gäbe, man müsste sie erfinden
„So ist das mit den Zeitzeugen“, sagt Wolf Rothe und erzählt einen Witz aus den Zwanzigerjahren: Ein Mann hat ein Auto erstanden, noch eine Besonderheit damals. Sein Freund ist begeistert: „Ist ja toll. Aber sag mal: Warum ist es denn auf der linken Seite grün und auf der rechten blau?“ „Na“, sagt der Mann, „wenn es einen Vorfall mit dem Auto gibt, kann niemand sagen, welche Farbe es hatte.“ Rothe lacht knarzig. In seinem mit Filmplakaten und -projektoren voll gestellten Wohnzimmer kann er wunderbar über die Vorkriegszeit erzählen: witzig, bunt, anregend. Deshalb ist Rothe einer der oft angefragten Zeitzeugen, die die ZeitZeugenBörse vermittelt.
Heute feiert sie ihr 10-jähriges Bestehen – und die meist älteren Damen und Herren des ehrenamtlich arbeitenden Vereins dürfen sich getrost gegenseitig auf die Schultern klopfen: Nicht nur, dass der Verein bundesweit seinesgleichen sucht. Dem Leitspruch „Wir organisieren und vernetzen Erinnerungsarbeit“ wird er fast immer gerecht. Gäbe es die „ZeitZeugenBörse“ nicht, man müsste sie glatt erfinden.
Dieses Verdienst hatten vor zehn Jahren die Männer und Frauen um Ingeburg Seldte, Jahrgang 1920. Seit der Gründung ist sie die Vorsitzende des Vereins, und wer sie erlebt, glaubt ihr, wenn sie sagt, die Arbeit als Zeitzeugin und Vereinsvorsitzende „hält mich frisch“. Immerhin hat sie schon die Olympischen Spiele 1936 in Berlin mitgemacht – als eins von hunderten Mädels, die auf der Eröffnungsfeier im Olympiastadion zu Beethovens Neunter einen Reigen tanzten. „Das war mein schönstes Schulerlebnis.“
Ingeburg Seldte ist sich der Ambivalenz dieses Satzes bewusst, er beschreibt zugleich die Schwierigkeit, ein guter Zeitzeuge zu sein. Geht es doch auch darum, beim Erzählen des Erlebten und Erlittenen einen Schritt Abstand von sich selbst zu gewinnen – nach dem Motto: Damals habe ich das so gesehen, heute sehe ich das so. Zugleich habe man in den Jahren „gelernt, die Meinung des anderen stehen zu lassen“. Denn so, wie das Heute verschiedene Wahrheiten kennt, ist auch das Gestern ganz unterschiedlich zu erinnern, zu verstehen. Das will auch Wolf Rothe mit seinem Witz sagen: Wer als Soldat im besetzten Paris eingesetzt war, wird den Krieg ganz anders schildern als ein Kämpfer in Stalingrad. Welche Farbe hatte denn nun das Auto?
Von Meinungsverschiedenheiten dieser Art kann Gertrud Achinger erzählen, die sich im Büro der ZeitZeugenBörse, untergebracht in einem Altbau am Mauerpark, engagiert. Von den rund 180 Zeitzeugen in ihrer Datenbank sei die Mehrheit aus dem Westen der Stadt – und gerade der falle etwa zum Thema DDR in der Regel kaum etwas Positives ein, während sich bei manchen ehemaligen DDR-Bürgern einiges „verklärt“. „Jeder hat es auf seine Art erlebt“, sagt sie abgeklärt. Unter den Zeitzeugen gebe es „einen Edelkommunisten“ ebenso wie den Schüler einer Nazi-Eliteschule, der sich freiwillig zur Waffen-SS gemeldet hatte und auch heute noch in manchen Aspekten „nicht so recht weggekommen“ sei von den damaligen Erfahrungen, berichtet Ingeburg Seldte. Die Fronten der Vergangenheit lässt die Zeit nicht immer zerbröseln.
Das Büro der ZeitZeugenBörse atmet den Geist einer modernen Bürgerinitiative: entspannt, effektiv, technisch auf dem Stand der Zeit. Eine eigens entwickelte Software liefert per Suchmaske Zeitzeugen zu unterschiedlichsten Themen – von „Arbeiterleben im Wedding“ bis zur „Zionistischen Jugendbewegung“. Wer vor dem Büro der ZeitZeugenBörse steht, muss unter dem Klingelknopf „Erfahrungswissen“ klingeln. Zur Kaiserzeit spuckt die Datenbank noch drei bis vier Namen aus, zum Thema „Auschwitz“ nur noch einen. Nutzt die Zeit, die noch bleibt, nutzt die ZeitZeugenBörse! PHILIPP GESSLER