wunderbare welt der wahrnehmung durch farblose gläser von EUGEN EGNER :
Des Menschen Wahrnehmung ist ein gar wunderlich Ding. Die Versuchsanordnung hat entscheidenden Einfluss auf den Ausgang des Experiments, letztlich nimmt man wahr, was man wahrnehmen will. Doch in der so genannten Außenwelt existieren offenbar Prüfsteine, an denen individuelle Realitätskonstruktionen bisweilen schmachvoll zerschellen können.
Hier ein Beispiel für die Demontage eines subjektiven Weltbilds: Im November 2004 hatte ich die Ehre, bei der Vergabe eines Literaturpreises an den großen Ror Wolf anwesend zu sein. Zur Feier dieses Umstands und aus Freude darüber, dass der Preisträger an jenem Abend in so hervorragender Verfassung war, beschloss ein kleiner Kreis von Personen, zu denen auch ich gehörte, nach der Rückkehr ins Hotel noch nicht auseinander zu gehen, sondern das historische Beisammensein in der Hotelbar fortzusetzen. Dabei kam ich zwischen Ror Wolf und Rolf Michaelis zu sitzen, welcher bei der Preisverleihung die Laudatio gehalten hatte.
Alle bestellten etwas zu trinken, mir stand der Sinn nach einem Mineralwasser. Als ich eben irgendwelchen Unfug an Herrn Wolf hinquatschte, wurden die Getränke ausgeliefert. Auf meine Unterhaltung konzentriert, nahm ich im entgegengesetzten Augenwinkel flüchtig wahr, dass das Mineralwasser selbstverständlich wieder mit Zitronenscheibe und Eiswürfeln versetzt war, wie ich das überhaupt nicht mag. Dummerweise hatte ich bei der Bestellung vergessen, auf das Unerwünschtsein solcher Beigaben hinzuweisen, und nun blieb mir nichts anderes übrig, als mit geübten Handgriffen Verhältnisse im Glas herzustellen, die mir genehm waren.
Der Konversation weiterhin meine Hauptaufmerksamkeit widmend, fischte ich mit der Rechten so flink wie virtuos die störenden Objekte heraus, um sie in den nächststehenden leeren Aschenbecher zu befördern. Ich war kaum damit fertig, als ich plötzlich Herrn Michaelis’ Stimme verwundert tönen hörte: „Was machen Sie mit Ihren Fingern in meinem Campari?“
Wie in einem Roman von P.K. Dick veränderte sich da die Welt vor meinen Augen. Kein farbloses Mineralwasser im roten Glas stand vor mir, sondern ein rotes Getränk im farblosen Glas – zweifellos ein wesentlicher Bestandteile entkleideter Campari. Wie unsagbar peinlich! Weshalb steckte ich nicht gleich auch die Füße in sein Glas? Es ist immer wieder furchtbar, wenn es einem wie Schuppen von den Augen fällt und man erkennen muss, welch ein grob fahrlässiger Egozentriker man ist.
Herr Michaelis indes demonstrierte wahre menschliche Größe. Nicht nur verzichtete er darauf, mich zu schlagen, nein, er nahm den Zwischenfall obendrein mit bewundernswerter Gelassenheit auf. Von meinem Angebot, umgehend einen Ersatz-Campari auf meine Kosten kommen zu lassen, machte er keinen Gebrauch, sondern trank zu meiner Beschämung den wahnhaft von mir geschändeten. Was mag Herr Michaelis seitdem (mit Recht) von mir denken? Wenn sich so etwas herumspricht! Die Hoffnung darauf, jemals von der maßgeblichen deutschen Literaturkritik wahrgenommen zu werden, habe ich in jener Nacht begraben. Ist der Ruf erst ruiniert, lebt es sich unrezensiert.