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Archiv-Artikel

wir lassen lesen Kasparow und seine Vorkämpfer

Garri Kasparow ist der weltbeste Schachspieler – aber auch die umstrittenste Persönlichkeit im Zirkus auf den 64 Feldern. Vor zehn Jahren löste er mit der Abspaltung des WM-Titels eine Krise aus, die bis heute andauert. Nachdem er jahrelang Kirsan Iljumschinow, Präsident des Schach-Weltverbandes Fide, als Mafioso bezeichnete, paktiert der Russe nun plötzlich wieder mit dem Staatsoberhaupt der Republik Kalmückien. Inzwischen gebärden sich beide wie Brüder, und Iljumschinow ist sich nicht zu schade, Steigbügelhalter Kasparows bei der Rückkehr auf den WM-Thron zu spielen.

Jüngster Höhepunkt dieser Versöhnung war die Verkündigung eines WM-Duells gegen den ukrainischen Weltmeister Ruslan Ponomarjow auf der Krim. Die Staatschefs aus der Ukraine und Russland, Leonid Kutschma und Wladimir Putin, waren geladen, um die ersten Züge auszuführen. Doch dann platzte der Titelkampf, weil sich Champion Ponomarjow nicht die Bedingungen von der neuerdings „kasparowphilen“ Fide diktieren lassen wollte. In der Posse bootete der Weltverband den widerspenstigen eigenen Weltmeister – daneben gibt es noch Wladimir Kramnik, der 2000 Kasparow den abgespalteten Titel abgeknöpft hatte – kurzerhand aus. Für Dezember setzte Iljumschinow eine neue WM im K.o.-Modus an. Der dabei ermittelte Weltmeister muss dann gleich gegen Kasparow antreten, der geruhsam zusehen darf, wie sich die anderen Großmeister auf dem Brett beharken. Genau dieses Verhalten hatte er noch vor fünf Jahren harsch kritisiert, als Anatoli Karpow (Russland) im Fide-Finale auf Viswanathan Anand warten durfte. Der Inder, der dann erst im zweiten Anlauf Weltmeister wurde, wies dieser Tage süffisant auf Kasparows zweierlei Maß hin.

Angesichts des widerwärtigen Schauspiels empfahl überdies ein Kritiker in der Internet-Zeitschrift Chess Today, man möge doch Kasparow endlich zum Ehren-Weltmeister erheben. Danach gebe dieser vielleicht endlich Ruhe – und könne sich voller Elan aufs Bücherschreiben konzentrieren. Darauf versteht sich der 40-Jährige zwar nicht ganz so meisterhaft wie auf den Umgang mit den 32 Figuren, ein bahnbrechendes Werk bleibt sein neues Projekt dennoch: Der Ex-Weltmeister befasst sich vor allem mit seinen zwölf Vorgängern. „Meine großen Vorkämpfer – Die bedeutendsten Partien der Schachweltmeister“ heißt die Reihe. Im ersten Band würdigt der gebürtige Aserbaidschaner vor allem Wilhelm Steinitz und Emanuel Lasker, die beiden ersten offiziellen Weltmeister.

Zu Ehren kommen aber auch andere Protagonisten des 19. Jahrhunderts, die inoffiziellen Champions vor dem ersten WM-Match 1886 zwischen Steinitz und Johannes Zukertort: André François Philidor, Kombinationskünstler Adolf Anderssen und Paul Morphy oder Herausforderer der Weltmeister wie Frank Marshall, Harry Pillsbury oder Akiba Rubinstein.

Neue historische Erkenntnisse darf man bei dem Buch, das auf CD auch alle 3.151 Partien der genannten Legenden zum Nachspielen mitliefert, nicht erwarten. Bei der Einleitung verzapft Kasparow gar ziemlichen Unsinn: Jeden der Weltmeister sieht er als „Kind seiner Zeit“, der auf dem Brett praktisch die Geschichte widerspiegele. Das untermauert der aktuelle Weltranglistenerste mit an den Haaren herbeigezogenen Beispielen, die man für jeden konstruieren kann.

Geradezu froh muss man sein, dass Kasparow nicht auch noch ein weiteres Lieblingsthema mit dem angeblich „erfundenen Jahrhundert“ im Mittelalter anschneidet, das er aufgrund einer abenteuerlichen Theorie in der europäischen Geschichte sieht. Besonders sein Erzrivale Karpow bekommt schon vorab sein Fett weg: Ihm bescheinigt Kasparow in der Übersicht der zwölf Weltmeister vor ihm zwar „einzigartiges Schachtalent“ (vermutlich um seinen eigenen Sieg über ihn zu erhöhen), geißelt den ehemaligen Kommunisten aber auch als eine „zähe, seelenlose Maschine“, „Breschnew-Kind“ und „Symbol des politischen und gesellschaftlichen Stillstands“. Insbesondere auf den fünften Band, in dem es um Karpow und den von den meisten als besten Schachspieler aller Zeiten angesehenen Bobby Fischer gehen wird, dürfen also die Leser gespannt sein. Vermutlich wird es dort vor Rundumschlägen nur so wimmeln.

Schachlich gibt es an dem ersten Werk wenig zu nörgeln. Peinlich nur die Anmerkung auf Seite 33, auf der ein Spieler namens Lipke 1898 als Großmeister tituliert wird – gleichwohl dieser renommierte Titel erstmals 1914 in St. Petersburg an Lasker & Co. verliehen wurde. Abgesehen von ein paar weiteren Schludrigkeiten ist „Meine großen Vorkämpfer“ historisch bedeutsam. Vor allem die Analysen der Partien gefallen. Kasparow scheute keine Mühe, alte Kommentare zu überarbeiten und Positionen neu einzuschätzen. Wäre erbaulich, wenn er im wahren Leben ähnliche Objektivität walten ließe.

HARTMUT METZ

Garri Kasparow: „Meine großen Vorkämpfer – Die bedeutendsten Partien der Schachweltmeister“. Edition Olms, 29,95 Euro