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Archiv-Artikel

wiedergelesen (vi): Hans Henny Jahnns „Die Nacht aus Blei“ Der Masochismus macht‘s

In der Serie „Wiedergelesen“ besprechen unsere Autoren norddeutsche Romane, die vor langer Zeit erschienen, ihnen aber bis heute nicht aus dem Kopf gegangen sind

Es gibt gute Gründe, ein Buch aufzuschlagen. Der eine will sich amüsieren, der nächste sich weiterbilden, ein anderer gerührt Tränen vergießen über ein tragisches oder auch bloß banal-trauriges Schicksal, wieder ein anderer sucht Hoffnung und Halt.

Für ein anderes, sich weniger selbsterklärendes Bedürfnis scheint der 1969 gestorbene Hamburger Dichter Hans-Henny Jahnn seine Bücher geschrieben zu haben: Er schrieb sie für Menschen, die Hand an sich und Feuer an die Welt legen wollen. Denn der Mensch ist bei Jahnn ein Tier; Moral – eine Worthülse; Erkenntnis – ein körperlicher Vorgang; Hoffnung – eine unentschuldbare Dummheit: „Es ist, wie es ist, und es ist fürchterlich“, schrieb der Dichter lakonisch. Seine Novelle „Die Nacht aus Blei“ etwa, Teil des unvollendeten Romans gleichen Namens, ist die reinste Zumutung, sie zu lesen eine Qual. Und doch, hat man das Buch erst mal aufgeschlagen, muss man es weiterlesen, sich Satz für Satz weiterquälen: nicht nur mit einem Erzählverlauf, der hoffnungslos beginnt und im Grab endet, sondern auch mit einer ungewöhnlich harten, bisweilen ungeschlachten Sprache, die allerdings von großer poetischer Präzision ist.

Ich verlasse dich jetzt. Du musst alleine weitergehen“. So hebt das Stück an, ohne dass der Leser wüsste, wer hier spricht. Stattdessen zeigt uns Jahnn den Mann, der nun durch eine ihm fremde Stadt irren wird: „Matthieu, der den Kopf gesenkt gehalten hatte, blickte auf. Er erkannte dies: dass es Nacht war – ein schwarzer Himmel ohne Sterne –; dass es Häuser gab, gepflasterte Straßen –; dass er an einer Ecke stand, wo die Fliesen unter seinen Füßen aus zwei Richtungen zusammentrafen –; dass ein gelbes grelles Licht, ausgestrahlt von hoch hängenden Lampen, das Bild erhellte, dies neue Bild, diese Straßenecke und einen breiten Boulevard, den er nach zwei Seiten hinabschauen konnte.“

Matthieu läuft los und sucht nach Unterkunft, aber die Stadt wirft ihn zurück wie die ins Pflaster eingelassenen Straßenbahnschienen das Licht der Lampen über ihnen. Einmal gelangt er in eine Art Edelpuff: er begegnet dort Menschen mit glanz- und schattenlosen schwarzen Körpern, ausgeschnittenen Löchern im Raum. Zurück auf der Straße liest er einen halb verhungerten Jungen auf, dem eine tiefe Wunde in der Brust klafft und in dem Matthieu sein früheres Ich erkennt. In einer Spelunke, die sie nach langem Marsch finden, gibt es weder etwas zu beißen, noch einen letzten Tropfen zu trinken. Beide müssen weiter, nun durch Schneegestöber. Halb erfroren rettet sich Matthieu in einen verliesartigen Raum tief unter der Stadt – dorthin, von wo der Junge aufgebrochen war, um nicht allein zu sterben. Ein Kerzenstummel beleuchtet den leeren Raum. Im Boden ist ein Verschlag eingelassen, der dem Jungen als Bett dient. Er legt sich hinein, und als das Licht verlöscht, zieht er den über ihn gebeugten Matthieu hinter sich her, zieht dessen Faust mitten hinein in seine offene Wunde. Der Rest ist vollendete Nacht.

Die „Nacht aus Blei“ wiegt mit seinen knapp 100 Buchseiten wenigstens im Regal nicht schwer. Anders verhält es sich mit Jahnns Hauptwerk, das der 1894 in Hamburg-Stellingen geborene Dichter ab 1934 im Exil schrieb: im dänischen Bornholm, wohin er vor den Nazis 1934 auswich. Die Romantrilogie „Fluss ohne Ufer“ wälzt sich auf 2.000 Seiten dahin und hat Jahnn immer wieder den Vergleich zu Proust, Musil oder Broch beschert – was die verstreute Jahnn-Gemeinde auch gleich auf den literarischen Wert des Werkes ausdehnt.

Soviel jedenfalls ist klar: Jahnns Werk ist um ein vielfaches sperriger als die Klassiker der Moderne, stilistisch und formal experimenteller, thematisch exzessiver. Bei Jahnn wird mit dem Inzest nicht lang gefackelt und das Homoerotische drastisch aufgedonnert: Ein junger Mann taumelt vor Glück, als er seine Lippen auf den willenlosen Mund des Mörders seiner Verlobten drückt.

Es wäre jedoch falsch, Jahnn als zynischen Weltverneiner zu lesen. „Die Nacht aus Blei“, dieses spätsurrealistische urbane Schauerstück, schrieb er in seinen letzten Lebensjahren. Man fühlt sich darum versucht, den Text auch als Kommentar auf die bleiernen 50er Jahre zu lesen. Im Rücken die Trümmer der Geschichte taumelt das aus allen Bindungen gelöste Individuum der nächsten Katastrophe entgegen. Der apokalyptische Schimmer über der „Nacht aus Blei“, ist der poesiegewordene Protest gegen den Atombombenbau und die Wiederbewaffnung der Bundesrepublik, den Jahnn als politischer Publizist zur selben Zeit übte.

Am Ende lässt sich Jahnns trostloses Werk nur dialektisch verstehen. Die Qual, die er uns zumutet, die gemarterte Kreatur, die er uns zeigt: Sie soll einen Umschlag bewirken, soll die Gleichgültigkeit des Menschen kippen lassen in einen aus dem Mitleid gewonnenen Widerwillen gegen Gewalt. Nicht mehr, aber auch nicht weniger kann uns dieser Atheist christlicher Prägung lehren. MAXIMILIAN PROBST

„Die Nacht aus Blei“, Bibliothek Suhrkamp, „Fluss ohne Ufer“ in Einzelbänden oder in der Jubiläumsausgabe in acht Bänden bei Hoffmann und Campe. www.eurobuch.com; zvab.com