wiedergelesen (v): Peter Rühmkorfs „Die Jahre die ihr kennt. Anfälle und Erinnerungen“ : Ein Mann gegen die ganz große Koalition
In der Serie „Wiedergelesen“ besprechen unsere Autoren norddeutsche Romane, die vor langer Zeit erschienen, ihnen aber bis heute nicht aus dem Kopf gegangen sind
Man schrieb das Jahr 1952, da notierte der 23-jährige Nachwuchsdichter Peter Rühmkorf (1929 – 2008) mit grimmem Furor: „Wir wissen ja ganz genau, welche Art von Literatur gesucht und gefördert wird. Eine moralisch neutrale, eine von vornherein bereits mumifizierte und petrifizierte, die der emsige Exeget und Höker für geistige Fertigwaren nach bewährtem Schnittmuster auszurädern und zu etikettieren vermag.“
Zwanzig Jahre später zitierte Rühmkorf das Bonmot des „polemischen Dreschflegels“ in seiner Biografie „Die Jahre die ihr kennt“ und kommentierte genüsslich: Davon gebe es „wohl kaum etwas zurückzunehmen“. Und weil sich daran auch 1972 wenig bis gar nichts geändert hatte, haute er den Exegeten und Hökern seine Anfälle und Erinnerungen um die Ohren, dass es krachte und staubte. Leider nicht sehr lange. Als Rowohlt das Buch 1999, zum Siebzigsten des Poeten, neu auflegte, war das Feuilleton gerade dabei, die Poesiealben-Traktate des so genannten „Fräuleinwunders“ zum Nonplusultra zu erklären. Schlimmer geht’s nimmer, dachte man noch. Und irrte. Heute, da neben Katholizismus und Kleinfamilie, Bügelfalte und Bausparvertrag auch die konsensfähige Groß- und Staatskünstlerpose aus der bestens gesichert geglaubten Mottenkiste gezerrt wird, hebt die FAZ einen histörchenpinselnden Milchbubi wie Daniel Kehlmann auf’s Podest, von wo aus der Spitzwegerich den guten Brecht ungestraft als „bleibendes Skandalon“ beschimpfen und Streber-Aufsätze zum abendländischen Wertekanon absondern darf. Rühmkorf hätte das nicht weiter gewundert. Er stellte schon 1968 die erstaunlich haltbare Diagnose: „Ganz neue hochkomplizierte Geschmacksfilter verhindern Einsicht in die krudesten Zusammenhänge von GANZ GROSSER KOALITION aus CSU/CDU/Springerpresse/SPD/Filmfunkfernsehen/Bankenhandelundverkehr/Staatsoper/Nationaltheater/Druck & Papier und neudeutscher Ideologie.“
Wer wissen will, wie solch klebrige Kontinuitäten entstehen, vor allem, wie man ihnen mit funkelndem Witz, Widerborstigkeit und poetischer Empfindsamkeit dennoch eine erfüllte Dichterexistenz abtrotzt, dem seien „Die Jahre, die ihr kennt“ nachdrücklich ans Herz gelegt. Die virtuose Montage aus Tagebuchnotizen, Gedichten, Polemiken und Essays bietet ein bundesrepublikanisches Sittenbild bis in die frühen Siebziger, ein Panoptikum allseits beförderter geistiger Tieffliegerei.
Dass etwas faul ist im Staate BRD, ahnte Rühmkorf früh, dank einer psychosomatischen Disposition, die den juvenilen Schwarzmarkthändler gleich nach der Währungsreform mit heftigsten Durchfallattacken traktierte. Nun musste ihm niemand mehr etwas über „den Zusammenhang von Fäkal- und Finanzsphäre“ erzählen. Wieder genesen findet sein Dickschädel schnell andere Betätigungsfelder. Zum Beispiel die Zeitschrift „Zwischen den Kriegen“, die er mit seinem zu Unrecht vergessen Dichterfreund Werner Riegel herausgibt. Oder den Hamburger „Studentenkurier“, aus dem 1957 Konkret werden wird. Zu diesem Zeitpunkt gilt Rühmkorf schon als gefürchteter Ein- und Aufmischer, der seine Invektiven zwecks optimaler Breitenwirkung unter diversen Pseudonymen streut. Zu legendärem Status bringt es die Kolumne „Lyrik-Schlachthof“, mittels derer ein gewisser Leslie Meier die Ergüsse der „Avantgardetöpfer“ und Restaurationsidylliker tranchiert. Ihren blutarmen Produkten setzte er ab 1959 Eigenes entgegen. Dabei war freilich nicht viel zu gewinnen. Rühmkorfs spielerisch eleganten, gerne auch lästerlich derben Verse machen ihn bald berühmt, aber leider nicht reicher. „Ich bin der erste große deutsche Nachkriegsdichter“, schreibt er selbstironisch, „nur fehlt mir Fett und Eiweiß / ich habe keine Lust / als Frühvollendeter schon zu krepieren.“ Entmutigt wurde er davon nicht. Nach einem Intermezzo als Rowohlt-Lektor arbeitete Rühmkorf als freier Schriftsteller. Motto: „Bleib erschütterbar und widersteh’.“
In diesem Geist lässt er sie aufmarschieren: die Kulturbetriebsnudeln und Kriegsgewinnler, die Ostermarschierer und ihren Widerpart, die zynischen Monteure der nivellierten Mittelstandgesellschaft. Und er weiß die Mischpoke hochkomisch zu beschreiben. Die Gruppe 47 war ihm „die Degussa der schönen Literatur“, bei Grass „griff das magische Denken (die Verwechslung von Wunsch und Wirkung) so mächtig Platz in seinem Bewusstsein, dass die zur Institution aufgeblasene Privatperson ernsthaft zu glauben schien, sie hätte goldene Hände, die schlechthin allem, was sie berührten (…) den Stempel der Allgemeinverbindlichkeit aufdrückten.“ So wahr und schön wie das ganze formidable Buch. M. QUASTHOFF
Peter Rühmkorf, Die Jahre die ihr kennt, Rowohlt, gebunden, 447 Seiten, 29 EUR, TB bei www.eurobuch.com oder www.zvab.com