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Archiv-Artikel

warenkunde Paradigmenwechsel bei Personenwaagen: Warum aus einem einfachen Vorgang ein Problemkomplex wurde

Wann haben Sie sich zuletzt gewogen? Und auf was für einer Waage? Etwa auf einem Modell der 1970er-Jahre, mit abgerundeten Seiten, einer gewölbten Trittfläche, fröhlich-bunten Farben, vielleicht sogar einem Blümchenmuster als Dekor? Oder auf einem neuen Exemplar, das sich durch harte Ecken, klare Kanten und geometrische Formen auszeichnet und aus Glas sowie einem metallischen Untergrund besteht? Das Ergebnis mag bei beiden Waagen dasselbe sein, aber das Gefühl, das man dabei hat, unterscheidet sich erheblich. Und im Vergleich wird deutlich, dass das neue Design nicht nur chicer sein mag als das vor 30 Jahren, sondern dass es einen scheinbar alltäglich-banalen Vorgang in ein ernstes Ritual verwandelt. Man könnte sich daran erinnert fühlen, dass der Philosoph Vilém Flusser den Dingen einmal unterstellte, sie seien „mit Imperativen versehen“.

Am Anfang steht die Sorge, ob man nicht zu schwer ist, um sich auf eine Glasscheibe stellen zu dürfen. Schon bevor man sein Gewicht ermittelt hat, denkt man also an die Übertretungen der letzten Tage und bekommt, zumindest im Regelfall, ein schlechtes Gewissen. Zwar ist man froh, wenn die Waage dann nicht einkracht, doch wird das eigene Gewicht per LCD-Anzeige ganz offiziös und unerbittlich verkündet, so als wäre man Patient oder Proband. Ein bisschen schummeln oder „interpretieren“ wie noch bei den alten Anzeigen ist nicht mehr möglich.

Mittlerweile messen etwas ambitionierte Fabrikate auch nicht mehr nur das bloße Gewicht, sondern ebenso Körperfett und -wasser sowie den Muskelanteil; es gibt „Diagnosewaagen“ und sogar Waagen mit einer „Trendanzeige“, die die Ergebnisse vorangehender Wiegungen speichern und so Abweichungen von einem anvisierten Ziel dokumentieren. An jede Verfehlung, die sich sonst erfolgreich verdrängen ließe, wird man also wiederholt erinnert; schnelle Sühne ist ausgeschlossen.

Aus einem unkomplizierten Vorgang ist das Wiegen zu einem Problemkomplex geworden. Statt die Waage als ebenfalls leicht bauchigen Komplizen zu schätzen, muss man sie als kühlen Richter akzeptieren. In der Sprache der Konfessionen formuliert: War das Wiegen ehedem katholisch kodiert, da man mit den eigenen Sünden recht gemütlich umging, ist es nun Ausdruck einer protestantischen Mentalität geworden. Schon bei einer geringen Abweichung vom Idealgewicht oder einer negativen Trendanzeige droht der Verdacht, man habe sein Leben nicht im Griff. Man wird zu genauer Buchführung und Regelmäßigkeit angehalten; ein Augenzwinkern ist nicht angebracht.

Wieso aber haben solche Waagen überhaupt eine Chance auf dem Markt? Warum soll man sich quälen, wenn es auch angenehmer geht? Die Veränderungen des Waagen-Designs spiegeln eine gesellschaftliche Entwicklung wider, in deren Zuge Fragen von Körper und Gewicht einen viel größeren Stellenwert angenommen haben. Fitnesswellen und die Verlagerung von Moden auf die Körperoberfläche, aber genauso die viel diskutierten Folgen einer Supermodel-Ära weckten bei vielen ein Körperbewusstsein. Wer hätte in den 1970er-Jahren, als die Waagen noch Blümchen trugen, mit einem Ausdruck wie Body-Mass-Index etwas anfangen können?

Um nicht zum Opfer der eigenen Willensschwäche zu werden, braucht, wer Körperehrgeiz besitzt, jedoch eine Instanz, die möglichst oft und unbestechlich an die gesetzten Ziele erinnert. Bei manchen übernimmt diese Aufgabe ein Partner, der sich dann aber der Gefahr aussetzt, zum Objekt von Frustattacken zu werden. Besser geeignet ist eine Waage, die allein aufgrund ihres gestrengen Erscheinungsbilds als permanente Mahnung fungiert und zum persönlichen Fitnessmanager wird: zu dem Ort, an – auf – dem alle Fragen rund um Körper und Gesundheit vergegenwärtigt werden können. Dinge sind „Delegierte unserer Moral“, bemerkte der Wissenschaftsphilosoph Bruno Latour, was vor allem bedeutet: Sie besitzen formatierende Kraft. Indem ihr Design Werte und Prioritäten präsent macht, kann eine Waage den Menschen Erfolgserlebnisse oder Niederlagen bereiten und sie zu Änderungen in ihrer Lebensweise herausfordern.

Dabei ist die Perspektive immer schon auf die Zukunft gerichtet, erscheint die Waage doch wie eine Erzieherin auf dem Weg zu einer besseren Lebensweise; an ihr kann man sich bewusst machen, wohin man sich noch entwickeln will. Objekte wie eine Waage stärken oder erweitern also die Identität des Individuums. Was herkömmlich als ihr Gebrauchswert firmiert, wird sekundär gegenüber dem pädagogisch-psychologischen Nutzen (oder Nachteil), der von ihr ausgehen kann. – Wann haben Sie sich zuletzt gewogen?

WOLFGANG ULLRICH

Dirk Baecker, bisheriger Kolumnist auf diesem Platz, hat seine Sozialkunde beendet. Dafür stellt von nun an Wolfgang Ullrichs Warenkunde vor, wie heutige Konsumgüter gemacht sind und was sie mit uns machen – immer am dritten Dienstag eines Monats. Wolfgang Ullrich lebt als Kunsthistoriker in München. Zuletzt erschienen von ihm die Bücher „Was war Kunst?“ (Fischer Verlag) und „Bilder auf Weltreise. Eine Globalisierungskritik“ (Wagenbach Verlag)