warenkunde : Alles eine Frage der Hormone
Wer „Balance“-Produkte kauft, neigt zu Stress und innerer Unruhe – das sagt zumindest die neurobiologische Wissenschaft
Was kann Kaffee, ein Duschgel, einen Frischkäse, ein Shampoo und eine Fertigpizza miteinander verbinden? Ganz einfach: ihr Name! So gibt es in allen diesen Fällen zumindest ein Produkt, das „Balance“ heißt. Wer es darauf anlegt, kann heute also seinen Wagen im Supermarkt mit Waren füllen, die durchwegs denselben Namen haben. Dabei schafft die Konkurrenzsituation der Marktwirtschaft doch angeblich maximale Differenzierung – und nicht branchenübergreifende Homogenität …
Die Lösung des Rätsels ist aber ganz einfach. Natürlich sind die Hormone schuld! Wenn heute so viele Produkte unter denselben Namen vermarktet werden, liegt dies nämlich daran, dass zahlreiche Unternehmen mit einem Schema arbeiten, das Menschen – und damit Konsumenten – allein nach ihrem jeweiligen Hormonhaushalt einteilt: In den letzten Jahren konnte sich die von der „Gruppe Nymphenburg“, einem größeren Beratungsunternehmen, entwickelte Klassifizierung der „Limbic Types“ ähnlich erfolgreich durchsetzen wie in der Antike die Lehre von den vier Temperamenten und den Körpersäften. Nun werden sechs Typen unterschieden, die sich aus dem Zusammenspiel von drei sogenannten Emotions-Systemen ergeben und die angeblich jeweils einen bestimmten Hormonspiegel aufweisen.
Die Systeme verfolgen konkurrierende, gelegentlich sogar komplementäre Ziele, strebt eines doch nach Stimulanz, Abwechslung und Abenteuer, während es beim zweiten System um Macht, Überlegenheit und Autonomie geht; das dritte schließlich ist darauf ausgerichtet, Sicherheiten und Bindungen und damit – genau! – einen Zustand der Balance zu schaffen. Im letzten Fall ist das Stresshormon Cortisol leicht erhöht; auch Noradrenalin, das eine unspezifische Erregung bewirkt, lässt sich meist in höherer Konzentration nachweisen. Der Wunsch nach Stabilität erwächst also gerade aus einem Hang zur Unruhe.
Nennen die Urheber der „Limbic Types“ die Balance-Verfechter „Bewahrer“, so bezeichnen sie die anderen Typen mit ihren jeweils eigenen Mischungen an Neurotransmittern als „Genießer“, „Hedonisten“, „Abenteurer“, „Performer“ und „Disziplinierte“. Dass ein „Bewahrer“ lieber eine traditionelle Marke kauft, ein „Hedonist“ oder „Abenteurer“ hingegen Neues bevorzugt, wird also nicht mit der sozialen Herkunft, dem Bildungsstand oder dem Einkommen, sondern allein aus neurobiologischen Grundlagen erklärt. Wer diesem Modell folgt, hat entsprechend darauf zu achten, dass seine Produkte wenigstens zu einem „Limbic Type“ passen und dessen emotionale Bedürfnisse bedienen.
Allerdings gibt es viel mehr „Bewahrer“ als „Performer“. Und auch geschlechtsspezifische Unterschiede sind zu berücksichtigen: Ein Produkt, das sich an Frauen richtet und in Design oder Werbung auf „Performer“ abgestimmt ist, wird kaum einen großen Markt erobern können, sind doch die meisten „Performer“ männlich, während nur rund zwei Prozent der Frauen die dafür typischen Testosteronüberschüsse aufweisen.
Wer in den Kaufhausregalen etwas genauer schaut, wird nicht nur viele Produkte finden, die in ihrem Namen sowie in der gesamten Inszenierung darauf ausgerichtet sind, bei einem bestimmten „Limbic Type“ Habenwollen zu erzeugen; vielmehr gibt es nicht wenige Anbieter, die ihre gesamte Produktpalette brav nach den drei Emotions-Systemen einteilen. So bietet Melitta drei Typen von Filterkaffee: „Die Anregenden“, „Die Entspannenden“ und „Die Besonderen“. Für Erstere wird mit dem „Feuer Brasiliens“ oder dem „Temperament Mittelamerikas“ geworben. Sind damit die Abenteurer und Hedonisten angesprochen, bei denen das Stimulanzsystem stärker ausgeprägt ist, macht die zweite Gruppe bereits mit dem Produktnamen „Harmonie“ die Bewahrer und Genießer, also die Balance-Sucher auf sich aufmerksam. Für sie ist der Kaffee „naturmild“ und „schonend geröstet“; die einzelnen Bestandteile sind „sorgfältig aufeinander abgestimmt“. Bleibt der dritte Typus, der besondere Kaffee „für den Kenner“. Wer ihn trinkt, darf sich anderen Kaffeekonsumenten überlegen fühlen. Doch wird das Dominanzbedürfnis noch weiter bedient: „Kraftvoll“ und „extra stark“ sind hier die auffälligen Adjektive, und vor allem dürfte es die Performer und Disziplinierten erfreuen, dank dieses Kaffees „mit neuer Energie durchstarten“ zu können.
Man sieht: Die Welt ist, allen gegenteiligen Gerüchten zum Trotz, ziemlich einfach. Um zu wissen, mit wem man es zu tun hat, genügt es, auf dessen Einkaufswagen zu achten. Wäre es daher nicht eine fällige Dienstleistung, dass auf dem Rechnungsbon im Supermarkt neben der Summe, die man zahlen muss, auch der eigene „Limbic Type“ vermerkt ist? „Achten Sie bitte auf Ihren Cortisolspiegel!“ könnte dann lesen, wer lauter Produkte gekauft hat, die „Balance“ heißen.
WOLFGANG ULLRICH