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Archiv-Artikel

von kopf bis fuß (4) Freiheit am unteren Ende

Ein Bauer geht anders als ein Flaneur. Auch der Gang – nicht nur die Handschrift – drückt etwas über den Charakter und die seelische Befindlichkeit eines Menschen aus. Hände und Füße bewegen sich zunächst individuell und werden darum bald domestiziert. Um sie sozialer Disziplin zu unterwerfen, wurden in der Schule die Hände einst zum Schönschreiben abgerichtet, und auf dem Kasernenhof zog man den Rekruten „die Hammelbeine lang“ – ihr Gang wurde im Gleichschritt standardisiert.

Der aufmerksame Beobachter kann auch heute an wehrpflichtigen jungen Männern den antrainierten Schritt bemerken. Von den Tieren unterscheiden wir uns u. a. durch den aufrechten Gang. Vom Homo erectus wird daher erwartet, dass er seine Besonderheit pflegt. „Brust raus!“ war in der alten Erziehung eine stereotype Forderung, und wer sie nicht herausstreckte, dem schob man einen Spazierstock unter die Achseln.

Warum das? Das Kriechen und Bücken empfinden wir als „Unterhundigkeit“, weshalb wir stets bemüht sind, uns möglichst weit über den Boden zu erheben. Was etwa auch den Zylinderhut erklärt. Schon der gebeugte Rücken bedeutet eine Nähe zum vierfüßigen Gang, zum Tier und zum Schmutz. Darum wird Gehorsam in „Bücklingen“ und „Dienern“ zelebriert. Schon das zustimmende Neigen des Kopfes ist eine Unterwerfungsgeste, und der Kotau im alten China, bei welchem der Bittsteller kriechend seine Stirn gegen den Boden schlug, war ein Extrem, das auf Abendländer abstoßend wirkte. Korsett und Kürass der Offiziere verhalfen auch denen zu aufrechter Haltung, die es ohne Stütze nicht schafften.

Die Haltung und – mit ihr verbunden – der soziale Status des Herrn und der Dame hängt nun aber weitgehend von den Füßen ab. Solange sie wie kleine Leibnizkekse aussehen, werden sie mit Küsschen bedeckt, bald aber als die vom Kopf am weitesten entfernten (Extremitäten!) und dazu untersten Körperteile in Schuhe gestopft und dort vergessen, bis sie zu riechen beginnen. Jemandem die Füße ins Gesicht zu strecken ist ein Zeichen der Verachtung, besonders ausgeprägt in der amerikanischen Manier, die Füße auf den Schreibtisch zu legen und dabei den Hut aufzubehalten. Endgültige Unterjochung wurde im Altertum dadurch ausgedrückt, dass der Sieger dem Besiegten den Fuß auf den Nacken stellte.

Die Füße unserer Großeltern sahen furchtbar aus. Sie waren ausgetreten und über und über mit Hühneraugen besät – gerade die Füße der Frauen. Denn sie wurden zwar nicht mehr wie im alten China zu „Lilienfüßchen“ bandagiert, so doch in Schuhe gezwungen, die auf die Beschaffenheit des Fußes keinerlei Rücksicht nahmen. Die hohen Absätze – als zoccoli ursprünglich eine venezianische Erfindung gegen den Straßenschmutz der Lagunenstadt – waren im Pariser Rokoko des Louis-quinze so hoch geworden, dass die Hofdamen, wie Casanova berichtet, – körperlich völlig disproportioniert – eher nach vorne fielen, als dass sie gingen. Die Unbehilflichkeit der Dame war die Voraussetzung für die Kavaliersleistungen des Herrn. Das schlichte Implikat ist der Herrschaftsanspruch, den Frauen das Weglaufen unmöglich zu machen, d. h. die Bewegungsfreiheit zu beschränken, welche ja die Freiheit der Freiheiten ist. Bloße Füße sind darum ein Symbol der Freiheit.

Die Lernfähigkeit und Behändigkeit unserer Füße ist enorm. Sie vermögen nicht nur tanzend über das Parkett zu wirbeln wie jene von Fred Astaire, sondern können notfalls auch lernen, ein Auto steuern oder zu schreiben. Nicht umsonst heißen die Zehen im Italienischen „Fußfinger“. Schmerzende Füße dagegen können das soziale Auftreten gründlich zunichte machen. Die – buchstäblich basale – Bedeutung des Fußes wird durch entsprechendes Schuhwerk unterstrichen, sogar die Schuhgröße hatte einst soziale Bedeutung: die Redensart „jemand lebt auf großem Fuß“ hat den realen Hintergrund, dass die Schnabelschuhe eines Fürsten 2 1/2 Fuß, die eines Barons 2 Fuß und die eines Ritters 1 Fuß maßen. Verkehrte man mit jemandem auf gleichem Fuß, stand man auf der gleichen Gesellschaftsstufe.

Darüber hinaus ist der „Fuß“ – länger als „Elle“ und „Handbreit“ – die einzige vom menschlichen Körper abgeleitete Maßeinheit geblieben, welche den Anspruch, der Mensch sei das Maß aller Dinge, gegenüber den objektiven Maßen (Meter, KW etc.) tapfer aufrechterhält. BURKHARD BRUNN