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village voiceEine Porträt-CD der Komponistin Charlotte Seither

Der Prozess ist die Musik

Was geschieht just in dem Augenblick, in dem ein Komponist oder eine Komponistin einen Klang entwickelt, in dem sich Note an Note schmiegt, um Teil zu werden eines musikalischen Moments? Was passiert, wenn sich die Akkoladen mit Tinte füllen und die papierne Musik schon optisch zu pulsieren beginnt? Was ist das für eine Vorstellung, die hinter der geschliffenen Oberfläche des fertigen, klingenden Werkes schlummert? Das alles lässt sich hörend nachvollziehen – auf der jüngst vom deutschen Musikrat herausgegebenen Porträt-CD der Berliner Komponistin Charlotte Seither.

In den Stücken Seithers wird der Kompositionsprozess zum Gegenstand der Musik selbst. Sie komponiere Takt für Takt, erklärt Seither im Gespräch. Erst wenn ein Augenblick mit all seinen Konsequenzen für den weiteren Verlauf des Stückes gefestigt ist, könne sie ihn weiterführen. Im Werk Charlotte Seithers, 1965 im pfälzischen Landau geboren und seit 1985 in Berlin wohnhaft, verschmelzen Prozess und Moment. Licht und Schatten eines musikalischen Augenblicks werden mit jedem neuen Ansatz neu ausgerichtet. Immer wieder hebt die Musik an, um einen Gedanken neu zu formulieren, ihn in ein anderes, leicht verändertes Gewand zu kleiden. Als traue sie den Noten nicht, wimmelt es in ihren Partituren von verbalen Anweisungen, von Versuchen, dem bloß vorgestellten Klang über das Tonhöhen-Dauern-Raster hinaus habhaft zu werden und den Interpreten eine „innere Haltung“ (Seither) zu vermitteln.

Zwar sind Prozess und Moment in der Musikgeschichte keine unbekannten Größen. Aber auskomponierte Prozesse waren bislang regelmäßig in langatmigen Bögen verebbt – in den überproportionierten Formen Anton Bruckners oder den hypnotischen Grooves der Minimalisten. Das Verharren im musikalischen Moment erwies sich hingegen stets als Gestaltung von Miniaturen, in denen ein musikalischer Mikrokosmos geballt und implosiv zum Vorschein kam – vorbildhaft zu Beginn des 20. Jahrhunderts bei Anton Webern. Indem Seither Entwicklung und Moment zur Deckung bringt, fügt sie dem formalen Gestaltungsprozess eine eigene, neue und in jeder Hinsicht bemerkenswerte Wendung bei. Mit „immer weniger Material zu einer immer differenzierteren Sprache gelangen“, umreißt die Komponistin ihr ästhetisches Credo. Angesichts des stets tastend voranschreitenden Komponierens wird eine Besetzung als Gattung fast zwangsläufig zur Bürde. Begriffe wie „Kammersinfonie“ oder „Streichtrio“ wecken Vorstellungen, denen sich auch Seither nicht verweigert, die sie aber –unter Anspielungen und Querverweisen –, ohne sich vor übermächtiger Geschichte aufzugeben, aus den Angeln zu heben versteht. Vorgefertigte Konzepte, Pläne, Schemata sind Charlotte Seither fremd. Wohl aber wird ihr tastendes Komponieren oft von abstrakten, musiknahen Bildern begleitet. In der „Kammersinfonie (objet diaphane)“ (1993) ist es die Vorstellung einer auf Holz gespannten Tierhaut, die unter verschiedenen Lichtverhältnissen bloß Oberfläche oder Blutgefäße und subkutane Unreinheiten zu Gehör bringt. In dem wundervoll betitelten Klavierstück „Klang und Schwebung“ (1996) ist es die Unsicherheit zwischen gespieltem Ton und klingendem Resultat, die Seither als Gestaltungskoordinaten ausspielt.

Warm und weich geraten Seither musikalische Stills, und gelegentlich kommt sie dabei ins Schwelgen. In zwei mit „Waters, earth and air“ (1997) überschriebenen Stücken streift die ätherische Frauenstimme die Grenze zum Kitsch. Und mit „Peser ses mots“ führt die Komponistin das dunkle Timbre einer Subkontrabassblockflöte, einer Bassklarinette, eines Violoncellos, eines Kontrabasses in todtraurige Verlorenheit. Eine Porträt-CD des Deutschen Musikrates suggeriert der Öffentlichkeit, dass ein Komponist, eine Komponistin die Schwelle zur Meisterschaft überschritten hat, dass mit ihm, mit ihr fortan zu rechnen sein wird. Im Falle von Charlotte Seither dürfte da zunächst kein Zweifel bestehen.

BJÖRN GOTTSTEIN

Deutscher Musikrat – Edition Zeitgenössische Musik: Charlotte Seither (Wergo/Schott)

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