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Archiv-Artikel

uli hannemann, liebling der massen Der Fußabtreter meiner Feierabenddekadenz

„Müssen wir in Kino eins oder in Kino zwei?“ – „In Kino zwei.“ Der Kartenabreißer im FSK verzieht keine Miene, schiebt aber trotzdem nach: „Steht drauf.“ – „Oh ja, natürlich“, werfe ich einen Blick auf meine Eintrittskarte: „Kino zwei“, steht fett über die gesamte Breite gedruckt. Sonst nichts. Ein Hauch Schamesröte huscht mir über das Gesicht. Wie oft wird sich der Abreißer diese blöden Fragen gefallen lassen müssen: „Muss ich in Kino eins? Ist das in Kino zwei? Kino eins oder Kino zwei? In welchem Kino läuft denn bitte ‚Der seifige Pfad des Schweigens‘?“

Den ganzen Abend über darf er sich das anhören, und ich bin keinen Deut besser als die anderen, ein tumber Trottel, der dem Personal bräsig die Last der eigenen Denkfaulheit aufbürdet. Ein Fußabtreter meiner Feierabenddekadenz. Das denkt er bestimmt, dass ich ihn dafür halte, das habe ich ja nun weidlich demonstriert. Oh Gott, wie ich mich schäme! Ich kann seinen Hass, den er im Moment auch noch aufs Bewundernswerteste verbirgt, nur allzu gut verstehen: Wäre ich er, vergällte mir die Dummheit der Kinobesucher die ganze Arbeit. Ich verzweifelte an ihr, an der Unaufmerksamkeit der Menschen und schließlich am Leben überhaupt. Was hätte ich mich zuvor darauf gefreut, hier in diesem schönen Programmkino anzufangen, mit den schönen Programmkinofilmen aus ganz vielen Ländern und nicht nur Amerika, aus Frankreich sogar, herrlich prätentiöse Kunstkacke mit langhaarigen Frauen und freudlosen Männern, die gelangweilten Blickes an einsamen Stränden stundenlang schnittlos ins Leere labern und sonst gar nichts tun, wozu auch, cherchez le Laber, cherchez la femme, cherchez le Sinn.

Oh, wie hätte ich mich gefreut auf intellektuelle Kreuzberger Cineasten mit feinen weißen Baguettebröseln auf dunklen Mänteln in dezentem Schick, die mich an der Kasse fragen, ob ich den Rotwein empfehlen könne, oder ob denn nicht der Nebendarsteller in „Der seifige Pfad des Schweigens“ eben jener Claude Coiffeur sei, der damals in „Das Leben ist ein lahmer, lauter Bus“ bloß diese eine winzige Szene hatte, in der er aber so unnachahmlich nur einmal ganz kurz um die Ecke geguckt hatte, mit so einer Art beiläufigen, arglosen Listigkeit, unverwechselbar, unvergesslich, während der Hauptdarsteller vor einem Bistro mit seiner Exfrau stundenlang in nur zwei Einstellungen über gar nichts laberte. Stattdessen fragen sie mich doof: „Kino eins oder Kino zwei?“

„Kino zwei“, murmle ich resigniert und schlucke Tränen der Wut und Enttäuschung herunter. Von wegen Cineasten! Einmal mehr muss ich feststellen, dass ich es weit anspruchsvoller und erfolgversprechender getroffen hätte, den Insassen einer Schimpansenaufzuchtstation die Bedeutung verschiedener Tafeln mit Hilfe sanktionierender Bananenzuteilung beizubiegen. In meinem Rücken hängt nämlich ein riesiges Schild, auf dem steht: „Kino eins: ‚Das Lächeln des Lotusblumenzaubergartenverkäufermädchens‘; Kino zwei: ‚Der seifige Pfad des Schwei-gens‘ “ – daneben die jeweiligen Anfangszeiten. Keiner scheint den Hinweis zu verstehen. Vielleicht sollte ich ihn austauschen gegen „Einmal aufs Billet geschaut, macht sofort mit dem Saal vertraut“ oder „Wer Überflüssiges fragt, wird erschossen!“, womöglich wäre das klarer. Doch schließlich ist das alles nicht mein Bier, sondern eher das des Kinomitarbeiters. „ ‚Der seifige Pfad des Schweigens‘ fängt jetzt an“, weckt der mich nun aus meinem Tagtraum. „Danke“, schrecke ich hoch, „welches Kino war das noch mal gleich?“

ULI HANNEMANN