theorie & technik : Die Crux mit den Gefühlen
Gerade die Demokratie, die alle Zeichen von gesellschaftlichem Sinn aufgelöst hat, bedarf heute der Emotionen
Obamas Inauguration – das war Höhepunkt und Verdichtung einer emotionalen Welle, die vor kurzem noch keiner für möglich gehalten hätte. So viel Euphorie, Pathos, Kitsch, Leidenschaft (auch Leidenschaft für den Kitsch, dem man sich ungehemmt hingeben konnte) – ist das eigentlich noch demokratisch? Sind Emotionen demokratisch? Demokratie gilt doch als rationale Veranstaltung, als institutionalisiertes Verfahren einer vernunftgemäßen Willensbildung. Ihr Funktionsmodus ist temperiert.
In dieser Perspektive einer liberalen Demokratietheorie sind Emotionen Störungen, da sie irrational und unverhandelbar sind. Demokratie wäre demnach eine politische Ordnung zur Einhegung von Emotionen und zur Ausschaltung von Leidenschaften. Was aber, wenn nun Ereignisse oder eine Figur wie etwa Obama ebensolche mobilisieren? Ist das dann undemokratisch – oder gibt es eine genuin demokratische Emotionalität? Ja, braucht es die vielleicht sogar?
Bereits Alexis de Tocqueville, der französische Amerika-Reisende, hat auf die Notwendigkeit einer affektiven Bindung an die Demokratie hingewiesen – und diese vom Gefühlshaushalt aristokratischer Gesellschaften unterschieden. In Letzteren drehe sich alles um das Treuegefühl zu der Person des Lehnsherrn, Treue also zu einer Person, durch die man mit allen anderen in „einer großen Kette“ verbunden war. Die politischen Gefühle waren also fixiert und vorgesehen durch die „genau umgrenzte und dauernde Stelle“, die jeder innehatte. In der Demokratie hingegen seien alle in ständiger Bewegung, die Gesellschaft ändere sich täglich und damit auch die Emotionen und Bedürfnisse. Eine wesentliche Bestimmung der demokratischen Emotionalität ist also: Sie ist unstet. Sie scheint weder vorgesehen für das Funktionieren dieser Gesellschaftsordnung, noch steht sie in einer fixen Anordnung. Die demokratische Gefühlswelt hat also eine labile Struktur.
Gleichzeitig aber bedarf gerade die Demokratie, die keine Gewissheiten mehr verbürgen kann, die alle Zeichen der Garantie von gesellschaftlichem Sinn aufgelöst hat, ja auflösen musste – gerade die Demokratie bedarf der Emotionen. Gerade heute. Denn die Institutionen, die zwischen das Individuum und das Ganze – also zwischen die einzelnen Affekte und den rationalen Konsens – zwischengeschaltet sind, erodieren zunehmend. Der Anteil der intermediären Systeme – wie Parteien, Vereine usw. – geht zurück. Das Individuum steht dem Ganzen also unvermittelter gegenüber.
Das wird vielfach als Krise der Demokratie gewertet, als Vertrauenskrise. Vielmehr handelt es sich um eine Krise der demokratischen Gefühlswelt. Was es heute also braucht, ist eine andere Art der affektiven Einbindung, die Demokratie im Individuum selbst verankert.
Theoretiker der Postdemokratie wie etwa Colin Crouch sprechen von einem Rückgang der Partizipation am politischen Prozess. Tatsächlich aber liegt die Crux eben in der Emotionalität, die ja der Antrieb unseres politischen Handelns ist. Es geht dabei übrigens nicht um den affektiven Bezug auf die Demokratie als solche, eine Leidenschaft, die in dieser Form nur an historischen Bruchstellen virulent wird und nur dort notwendig ist. Die politische Emotion, die die Demokratie für ihren Standard-Funktionsmodus braucht, entsteht an zwei Orten: bei Sachfragen und bei einzelnen Figuren.
So sind die meisten politischen Themen affektiv besetzt (man könnte auch sagen, die affektive Besetzung mache sie eben politisch) und aktivieren emotionale Reaktionen und Bewertungen, Parteinahmen. Diese Gefühle sind also kontroversiell, da sie in Konkurrenz zu divergierenden Haltungen stehen. Die Begeisterung für eine Figur hingegen, die die demokratische Macht verwalten kann, nicht notwendigerweise.
Früher war die vorherrschende emotionale Mobilisierung jene des Staatsbürgers, des citoyen. Der alte Nationalismus hat die Individuen also als Gleiche, das heißt in Absehung von ihrer jeweiligen Besonderheit, affektiv eingebunden. Heute muss eine emotionale Anrufung die politischen Subjekte gerade in ihrer Besonderheit, in dem, was sie unterscheidet, in ihrer jeweiligen Identität packen und sie nicht als abstrakte Staatsbürger, sondern als konkrete Bürger zusammenführen. Dies kann sich populistisch und ressentimentfördernd äußern. Oder eben inkludieren. Erst dort, wo es solch einer Emotionalisierung gelingt, die inkompatiblen Verschiedenheiten ohne Feindkonstruktion, ohne Exklusion zu versammeln, ist sie genuin demokratisch.
ISOLDE CHARIM